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Hannahs Briefe

Hannahs Briefe

Titel: Hannahs Briefe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ronaldo Wrobel
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grüßte er ihn und erging sich in Höflichkeiten, bis ihn ein Schlag niederriss. Am Boden liegend, musste er ungläubig mit ansehen, wie der Mann das halbe Haus plünderte. Essen, Metalle, Kleidung,sogar Aschenbecher warf er in seinen Leinensack.
    » Oj, Gwalt! «, brachte Shlomo hervor. »Wie kannst du das einem Bruder antun?«
    Noch an Ort und Stelle machte er Rebekka zur Witwe.
    * * *
    Mit ihren drei Stockwerken und den großen Eisentoren nahm die Hauptwache einen ganzen Block der Rua da Relação ein. Hier residierte auch Major Filinto Müller mit seiner Elitetruppe, die in Nazideutschland ausgebildet worden war, um gegen die »rote Subversion« vorzugehen.
    Das aufgeregte Hin und Her in den Korridoren übertönte das Geschrei aus dem Untergeschoss, während Max in Begleitung zweier Uniformierter eine Treppe hinaufstieg. Nachdem sie diverse Male abgebogen und weiß der Himmel wo durchgelaufen waren, landeten sie schließlich in einem kleinen Raum mit einem Tisch, einem Stuhl und dem unerbittlichen Porträt von Getúlio Vargas.
    »Ich heiße Onofre«, sagte ein blasser junger Mann mit dunklem Schnurrbart. Er hatte ein Päckchen dabei, auf dem stand: Argentinien.
    Onofre holte einen Stapel Briefe hervor, einen Bleistift und ein liniertes Notizbuch, das es auf Portugiesisch zu füllen galt. Die Briefe waren bereits aus dem Umschlag genommen und auseinandergefaltet worden und mussten extrem vorsichtig behandelt werden.
    Max begann seinen »Dienst am Vaterland« mit einem Brief aus der Pampa. In knappen, einfachen Worten bat ein Schlachter um Nachricht von seinem Sohn. In einem anderen Brief ging es um Einzelheiten einer Hochzeit in Patagonien: Süßspeisen, Musik, Spitzendecken. Im nächsten bat jemand um Geld. Max trat der Schweiß auf die Schläfen: Was hatte all das mit einer Bedrohung Brasiliens zu tun? Wozu um Himmels willen Unschuldige ausspionieren?
    »Sie wirken nervös«, sagte Onofre. »Das ist immer so am Anfang, man gewöhnt sich aber daran.«
    Max betrachtete den Jungen leicht verächtlich. Brasilianer waren für den Polizeidienst nicht geeignet: Es fehlte ihnen an Haltung, an Substanz, an Kaltblütigkeit. Nicht, dass ihn das beruhigte. Im Gegenteil, unfähige Soldaten konnten genauso gefährlich sein wie die schlimmsten Kosaken. Max wischte sich über die Schläfen und sann nach, auf der Suche nach dem Frieden, den er nie finden würde, obwohl seine Schuldgefühle mit der Zeit nachließen – so wie auch der Widerwille, mit dem er den Umschlag mit seinem Lohn entgegennahm.
    Die Arbeit auf der Wache nahm zwei Nachmittage pro Woche in Anspruch. In Hut und Mantel gehüllt, kam und ging Max und überließ seinen Laden so lange dem jungen Mann, den er rasch eingestellt hatte, um die Kundschaft zu beruhigen – nein, der Schuhmacher war nicht krank! Des Nachts nutzte er seine Schlaflosigkeit und reparierte Schuhe und dachte an früher.
    Als er ein Kind war, hatte sein Großvater zu ihm gesagt, »wenn Reden Silber ist, dann ist Schweigen Gold«. Erst mit zwölf verstand Max, was er damit gemeint hatte. Mit vierzehn wagte er es, ihm zu widersprechen, indem er erklärte, Reden sei weder Silber noch Gold, denn »Schweigen bewahrt zwar vor dummem Gerede, aber auch vor klugen Worten«. Sein jugendliches Ungestüm war jedoch von kurzer Dauer. Mit zwanzig beschloss Max, nur noch das Nötigste zu sagen und zu hören, mied schmeichlerische Blicke und achtete nicht auf die Geschichten, die man ihm über den Ladentisch zuflüsterte. Wozu sich um den neuesten Klatsch kümmern, wenn ihn schon der von gestern nicht interessierte? Er lebte gern allein, und so sollte es auch bleiben. Frauen, nur ohne Verbindlichkeiten. Er war kein Freund von Schmeicheleien. Wozu lächeln, wenn es nicht ernst gemeint war? Das überließ er den Klientelschiks mit ihren Koffern voller Tand, die für Geld, das kaum jemand hatte, Dinge verkauften, die niemand brauchte. Oder den Verfechtern verrückter Ideen wie eines jüdischen Staates, den die Zionisten im Mittleren Orient errichten wollten.
    »Das ist für die Keren Kajemet LeJisrael «, hatte das Mädchen am Tag zuvor lächelnd gesagt und ihm eine bläuliche Metallbüchse hingehalten. »Helfen Sie mit bei der Gründung des jüdischen Staates!«
    »Ein jüdischer Staat?« Max hämmerte auf einer Sohle herum. »Was für ein idiotischer Traum!«
    »Idiotischer Traum? So sprechen Sie von Israel?Ben Yehuda hat das Hebräische wiederbelebt, Tel Aviv wird immer größer, Jerusalem hat eine

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