Hannahs Briefe
hebräische Universität, und Millionen von Brüdern kehren zurück ins Gelobte Land. Das nennen Sie einen idiotischen Traum?«
Max antwortete nicht.
Eher neugierig als verärgert fragte das Mädchen: »Kutner, haben Sie einen Traum im Leben?«
Und er, ohne sie anzusehen: »Schuhe reparieren.«
Max war weder schön noch hässlich. Er trug weiße Hemden und schwarze Hosen – das musste reichen. Auch wenn er seine Kahlköpfigkeit und sein blasses Äußeres bedauerte, kamen sie ihm doch gelegen, denn so geriet er gar nicht erst in Versuchung, jemanden verführen zu wollen. Liebe, nicht im Traum. Liebesgeschichten waren nichts weiter als die Zündschnur zum Pulverfass. Erst führten sie auf die Parkbank, dann in die Gotteshäuser, auf die Entbindungsstation und am Ende ins Bordell. Das Junggesellendasein war noch der schnellste Weg zu den Huren. Nachdem Max bei ihnen war, ging er oft am Meer spazieren, mit Blick auf den Horizont, einem Ich zugewandt, das erst in der Stille zum Vorschein kam.
Jetzt, und erst jetzt, mit 37 Jahren, kam ihm der Verdacht, dass Reden weder Silber noch Gold war, sondern eine große Mine voller bunter Steine.
Ob romantisch oder trivial, episch oder belanglos, in den Briefen ging es um alles Mögliche: Gesundheit,Entbehrungen, Religion, Geld. Die eine hatte ein Kind bekommen, der andere zugenommen, und die Nazis marschierten durch Buenos Aires. Ein Mann beschwerte sich bei seinem Bruder über die Ehefrau, in einem anderen Brief schrieb ihm das Miststück selbst. Junge Menschen zitierten Baudelaire, alte aus dem Talmud. Der eine hatte viel, der andere wenig, nie jedoch war es genug. Dem Reichen fehlte es an Liebe, dem Geliebten an Reichtum. Keiner war zufrieden. Genau genommen waren die, die mehr hatten, als sie brauchten, auch die, die mehr brauchten, als sie hatten. Jede Seele war eine eigene Welt. Hier der stille See, dort das tobende Meer, hier der Berggipfel, dort die Ebene. Nicht selten war den Zeilen eine Haarsträhne oder eine Kinderzeichnung beigefügt. Hin und wieder stieß Max auf unverständliche Abkürzungen – ASBIB, LJ, HPS –, die er umgehend in sein Notizbuch übertrug. Ebenso verfuhr er mit komplizierten oder unzusammenhängenden Sätzen. Seine Aufgabe war es, zu übersetzen, und nicht, auszuwerten oder zu zensieren. Am frühen Abend verließ er die Wache angenehm ermüdet. Bevor er in die Straßenbahn stieg, ging er zu einem Imbiss an der Praça Tiradentes und aß mit zweifelhaftem Fleisch gefüllte Pasteten, seine heimliche Leidenschaft.
Die Briefwechsel mit Argentinien ließen ihm keine Ruhe (allein in Buenos Aires lebten mehr Juden als in ganz Brasilien). Manchmal versuchte Max auszurechnen, wie viele andere wohl noch damit beschäftigt waren, den Rest der Welt zu übersetzen. Womöglich wareneinige sogar seine Kunden? Hauptmann Avelar zufolge unterlagen Nordamerika und Europa einer »Kommission«, in die er befördert würde, wenn er seine Sache gut machte. Für den Schuhmacher jedoch war die einzig erstrebenswerte Form von Beförderung die Freiheit.
Oder etwa doch nicht?
* * *
Das Theatro Municipal eröffnete die Spielzeit mit Aida . Max betrachtete die großen Fenster und den opulenten Eingang zur Cinelândia, dem Broadway Rios. Er lief durch die Straßen, spähte in die vollen Bars, wo die Kellner mit akrobatischem Geschick ihre Biertabletts hin und her trugen. Die Eleganz stand Schlange vor den Kinos, aus denen Pärchen Arm in Arm herausströmten, sich auf die Parkbänke setzten und gurrten wie die Tauben. Um sie herum Theater, Billardhallen und Cafés, in denen die Stars sich unters Publikum mischten und die Politiker den Journalisten ihre Intrigen quasi in den Block diktierten.
Max blieb vor dem Odeon stehen, vor einem Plakat von Charlie Chaplin. Der legendäre Vagabund saß im Räderwerk einer Maschine gefangen. Darüber stand in großen Buchstaben Moderne Zeiten . Erst kürzlich hatte jemand den Film als »kommunistisches Pamphlet« bezeichnet, weil er sich über den Kapitalismus lustig machte. Wer und wann war das gewesen?
Sechs Uhr, das Licht wanderte vom Himmel hinunterin die Leuchtschriften, Straßenlaternen und Fenster. Hoch oben auf dem Corcovado verbarg die Christusstatue die ersten Sterne und segnete die Pracht zu ihren Füßen. Die Hauptstadt Brasiliens erstrahlte zur nächsten Vorstellung und begeisterte Menschen aus aller Herren Länder. Aber es gab nicht nur Glitzer und Gastfreundschaft. Wer sich dem Rummel nicht anpasste, hatte es durchaus
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