Hannahs Briefe
begab mich zum Bahnhof. Es war Nacht, niemand auf den Straßen. Der Zug nach São Paulo fuhr in einer halben Stunde, und ich musste etwas trinken. Eine einzige Bar hatte noch offen. Ich erinnere mich gut, es war ein schlauchförmiger Laden mit einer langen Bar voller Flaschen und Würsten, die von der Decke hingen. Ich bat um ein Glas Wasser. Ich war traurig, aber ruhig und gefasst. Mir tat alles weh, und ich konnte schlecht sehen. Und als ich den ersten Schluck nahm, kam jemand langsam von hinten auf mich zu, blieb schließlich neben mir stehen und sah mich an. Was glauben Sie, wer es war?«
»Guita?«, riet ich.
Max lachte, es war nicht Guita.
»Die Frau sah mich misstrauisch an. Sie war blass und verängstigt. Ich hatte das Gefühl, sie zu kennen, wusste aber nicht woher, bis ich ihre Stimme hörte: ›Senhor Kazinski?‹« Pause. Er lächelte verschlagen. »Glauben Sie mir, junger Mann, ich hätte nie gedacht, dass ich einmal Marlene Braun heiraten würde. Ich schwöre!«
Ich war entsetzt.
»Wen?«
»Marlene, Franz’ Frau.«
»Die Nazifrau?«
»Der Nazi war Franz, nicht sie! Marlene hatte der Polizei geholfen, ihren Mann zu schnappen und dazu die Bande, deren Chef er war, deshalb durfte sie in Brasilien bleiben. Sie war eine gute Frau, Opfer der Umstände. Die Arme. In jener Nacht war sie noch einsamer und bedrückter als ich …«
Ich saß regungslos da. Max hatte also die leichenblasse, mürrische Frau Braun geheiratet, die Anti-Hannah, das Ende all seiner Träume, und genau deswegen eine Quelle inneren Friedens!
»Wir waren glücklich. Sie hat mir zuliebe mit dem Rauchen aufgehört, wussten Sie das? Wie viele Menschen würden das für ihren Partner tun? Ich schlief gut, die Arbeit lief gut, ich führte ein ruhiges Leben, und wir hatten sogar einen Hund. Die Nächte waren nicht unbedingt stürmisch, aber wir waren zufrieden und aßen danach immer noch einen Happen. Ein paar Kekse, einen Apfel, und tranken Tee. Eines Tages beschlossen wir, uns auf das Essen zu beschränken. Es war besser so.«
Oj wej, die alte Frau war tatsächlich Marlene Braun gewesen!
»Wir heirateten nur standesamtlich«, fügte der Schuhmacher hinzu. »Welcher Rabbi hätte uns schon getraut? Keiner.«
»Und Franz?«
»Wurde nach Deutschland deportiert und starb unterwegs auf dem Schiff, möge er in der Hölle schmoren.«
Ich konnte es kaum glauben.
»1958 zogen wir von Flamengo hierher, weil Marlene Probleme mit dem Treppensteigen hatte. Sie war mir eine gute Frau und Freundin und hat mir bis zuletzt in der Werkstatt geholfen.«
Von Hannah war nirgends ein Bild oder eine Erinnerung zu sehen. Ich gab mich nicht zufrieden.
»Wenn Sie in Wirklichkeit Max Goldman heißen und der Sohn von Leon Goldman sind, warum behielten Sie dann den falschen Namen?«
»Gute Frage!« Er stand auf und räumte den Tisch ab. »Als ich mich einbürgern ließ, war es aus praktischen Gründen nicht möglich. Ich wollte keine Probleme mit der Polizei.«
In der Küche senkte Max den Blick, er hatte Tränen in den Augen. Er holte tief Luft und setzte sich auf einen Hocker. Ich hatte ihn an einem empfindlichen Punkt erwischt.
»In Wirklichkeit habe ich den Namen Kutner ihr zu Ehren behalten, um mich ihr nahe zu fühlen.« Er putzte sich die Nase. »Wissen Sie, wenn es im Judentum eine männliche Version der Aguna gäbe … ich wäre der Erste gewesen. Ich war, bin und bleibe ein gebundener Mann.«
Wir schwiegen eine ganze Weile.
»Haben Sie nicht mehr versucht, sie zu finden?«
Er klang jetzt unglaublich traurig.
»Sie wollte nicht gefunden werden.«
»Wusste Marlene von Ihren Gefühlen?«
»Ich habe mit ihr nicht über Hannah gesprochen. Es ist übrigens das erste Mal, dass ich mit irgendjemandem über Hannah spreche.«
»Sechzig Jahre lang haben Sie geschwiegen?«
»Na ja … fast. Kommen Sie.«
Max führte mich in sein Schlafzimmer und zeigte auf den Nachttisch.
»Er war immer da.«
Ein uraltes Gesicht, in Sepia. Ich nahm den Rahmen in die Hand.
»Shlomo?«
Max nickte.
»Sejde.«
Er hatte ein stolzes Gesicht und strahlte die Gelassenheit der Gerechten aus. Sein Blick war voller Glauben, aber auch Unruhe. Ich fragte mich, was Shlomo sah.
Max setzte sich aufs Bett.
»Einmal fragte Marlene, wer die Frau in São Lourenço gewesen sei. Ich sagte, sie sei eine Spionin gewesen, die für die Polizei arbeitete, ich hätte sie kaum gekannt und danach auch nie wiedergesehen.«
»Hat sie das geglaubt?«
»Natürlich nicht!« Dann fügte
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