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Hannahs Briefe

Hannahs Briefe

Titel: Hannahs Briefe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ronaldo Wrobel
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selbst neu kennenlernen.
    Gegen Mittag landeten sie auf dem Flughafen Santos Dumont. Max rief sofort sämtliche Telefonnummern an, unter denen Hannah hätte erreichbar sein können. Dann fuhr er mit dem Taxi nach Rio Comprido.Er schlug mit der Faust gegen die Tür des Apartments 310, befragte die Nachbarn im ganzen Haus und beschimpfte schließlich den Portier, als der ihm ein desinteressiertes »Weiß nicht« zur Antwort gab. Mit einem Nageleisen brach er die Tür auf. Es war niemand zu Hause, der Kleiderschrank war aufgeräumt, das Bett gemacht und der Tisch noch vom Vorabend gedeckt. In der Küche stand ein Leuchter mit zwei Kerzen, und auf dem Herd drei volle Töpfe.
    Max lief hinaus auf die Straße. Weder in der Kneipe nebenan noch beim Barbier an der Praça Estrela wusste man etwas von Hannah. Zu einer wichtigen Verabredung im Gelben Haus war sie nicht erschienen. In den letzten vierundzwanzig Stunden hatte niemand von ihr gehört. Dona Ethel von den Bnei Jisrael mobilisierte ihre Meraglim , und Hauptmann Avelar rief seine Truppe zusammen. Am nächsten Tag suchte die Polizei in ganz Brasilien nach ihr. Innerhalb weniger Stunden hing so ziemlich an jeder Ecke ein Phantombild von Hannah, sogar in Gefängnissen, Irrenanstalten und auf Friedhöfen. In Petrópolis wurden zwei vermeintliche Hannahs festgenommen, beide betrunken. In Juiz de Fora waren es sieben. Auf den Polizeiwachen von São Paulo meldeten sich insgesamt elf Frauen und behaupteten, Hannah zu sein. Fünfundvierzig waren am Abend davor mit ihr zusammen gewesen, vier bezeugten ihren Tod und zwei ihre Geburt. Während die falschen Fährten der Polizei das Leben schwermachten, kehrte der starrsinnige Schuhmacher nach Santos zurück. Hannah mussteinzwischen vom Schicksal ihrer Schwester erfahren haben. Dafür hatte sie zu gute Verbindungen – und zu gute Antennen. Wenn er sie finden wollte, musste er Guita überwachen.
    Doch das Schicksal hatte es eilig. Kaum hatte er das Krankenhaus betreten, hörte er Leutnant Staub brüllen, der mit hochrotem Kopf und erhobenem Finger umherlief und Ärzte, Pfleger, Angestellte und Polizisten zusammenstauchte. Vergeblich. Niemand hatte auch nur die geringste Idee, wie das hatte passieren können. Immerhin wurde Guita Tag und Nacht bewacht, in einem Zimmer ohne Fenster und Lüftung. Staubs Drohungen halfen nichts. Sollte er doch seine Untersuchungen einleiten und verhaften oder entlassen, wen er wollte, bis es eine Erklärung für Guitas Verschwinden gab.
    Spezialisten der Armee durchschnüffelten jeden Winkel im Krankenhaus, Bett für Bett, rissen Verbände ab und ohrfeigten Tote. Niemand betrat oder verließ das Gebäude, ohne vernommen zu werden. Unterdessen machten offensichtliche Geheimagenten die Stadt unsicher, begingen Hausfriedensbruch und schikanierten Unschuldige. Es folgten willkürliche Festnahmen, Schmuggel und andere subversive Aktionen, über die Staub nur hinwegsah, damit die Suche nach den beiden Frauen nicht darunter litt. Er interessierte sich nur für Hannah. Genau wie Max.
    * * *
    Wir saßen am Tisch und aßen zu Abend. Max rührte appetitlos in seiner Suppe.
    »Ich habe Hannah damals in der ganzen Stadt gesucht. Ich war sicher, dass Guita und sie in Santos waren, aber wo? Und unter welchen Umständen? Straße für Straße lief ich ab, Kanal für Kanal, bei Regen, bei Sonne, bei Wind und bei Dunkelheit, acht Tage lang, in sämtlichen Hotels, Pensionen, Bordellen und sonst wo hab ich sie gesucht. Ich fuhr nach São Vicente, auf den Monte Serrat, ging ins Casino, in Kirchen, auf Friedhöfe, alles. Ich nahm immer mehr ab, war nur noch Haut und Knochen, man nannte mich den verliebten Gringo. Leutnant Staub hatte inzwischen die Polizei in Argentinien, in Uruguay und auch in Paraguay, Bolivien und Chile informiert. In Rio überwachten Polizisten das Topas-Haus und das Gelbe Haus.«
    Allmählich wunderte ich mich und sah mir noch einmal das Foto des Ehepaars auf dem Tisch an. Natürlich war das Hannah, wer sollte es sonst sein?
    »Derweil lief ich weiter durch die Gegend und befragte jeden, der mir unter die Finger kam. In Geschäften, auf Märkten, in Museen, auf Bahnhöfen und an Haltestellen. Ich kam mir vor wie ein Bettler, der immer wieder nur nein, nein, nein zu hören bekam. Oder aber die Leute machten sich über mich lustig, führten mich auf falsche Fährten oder erzählten mir irgendwelchen Mist. Ein Mann bot mir seine Frau an, ein anderer seine Schwiegermutter. Eines Tages fiel ich ohnmächtig

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