Hannahs Briefe
schon beim dritten hatte ich das Gefühl, dass er Vertrauen zu mir gefasst hatte. Er redete und redete, bis ihm die Luft ausging. Dann machten wir eine Pause, kochten Kaffee, und schon legte er wieder los. Ich muss zugeben, dass ich erst Schwierigkeiten hatte, Hannah Kutner mit der klapprigen alten Frau aus dem Klub zusammenzubringen. Andererseits durfte ein Roman, der den Anspruch erhob, episch zu sein, keine Angst vor den Spuren der Zeit haben. Vielmehr sollte er sie hervorheben.
Nun denn. Seit einer Stunde murmelte Max immer wieder: »Es war Guita«, und blickte ins Leere, währendseine Hände regungslos auf den Armlehnen ruhten. Ich gab vor, ihn zu verstehen, und setzte ein entsprechendes Gesicht auf. Irgendwann bat ich darum, die Toilette benutzen zu dürfen, wo noch alte Parfümfläschchen seiner Frau standen, die inzwischen ganz ölig und dunkel angelaufen waren. Ich konnte mich nicht beherrschen und öffnete eines, und mit einem fast fetischistischen Schauder nahm ich einen süßlichen posthumen Geruch wahr. Als Kind hatte ich Angst vor altem Parfüm. Ich glaubte, dass in den Fläschchen im Schminktisch meiner Großmutter Geister steckten und ihr seltsam berauschender Geruch Ausdünstungen einer anderen Welt waren. Wenn ich ehrlich bin, denke ich das immer noch.
Ich ging zurück ins Wohnzimmer, blätterte in einem Buch und hoffte, die Atmosphäre auflockern und den verstummten Schuhmacher wieder zum Reden bringen zu können. Nichts. Oj wej, allmählich verzweifelte ich! Was zum Teufel verschwieg er, warum musste er mich so quälen? Warum waren Macht und Grausamkeit so untrennbar miteinander verbunden? Warum waren die Menschen, die ich brauchte, nicht so hilfsbereit wie die, die mich brauchten?
Plötzlich:
»Kaffee?«
In der Küche, während das heiße Wasser durch den Filter lief, erfuhr ich schließlich alles.
* * *
Guita arbeitete genau wie Hannah als Prostituierte. Sie war 1927 aus Polen weggegangen, noch vor ihrer Schwester, und zu ihren Verwandten nach Argentinien gezogen, die in Rosario einen Handel betrieben. Ihr großer Traum war es, den Gaucho zu heiraten, von dem die Verwandten ihr in langen Briefen vorgeschwärmt hatten. Eines Tages schickten sie ihr die Fahrkarte für die Überfahrt. Im Hafen von Buenos Aires wurde Guita von einem Fremden begrüßt, der sie zusammen mit einem anderen Mädchen nach Rosario brachte. Von einem Gaucho keine Spur. Guita wartete auch dann noch auf ihn, als sie bei einem Friseursalon namens Hermosita anfing, in dem es ein Hinterzimmer gab. Sie war in einem Bordell gelandet. Und der vielgerühmte Gaucho – muss es wirklich noch gesagt werden? – existierte nicht.
Guita widersetzte sich den Zuhältern, die sie nur deshalb nicht schlugen, weil in den Kneipen und Höfen der Umgebung mit ihrem »zarten, unbefleckten« Fleisch geworben wurde. Man band ihr Hände und Füße fest, damit sie sich während der Versteigerung ihrer Jungfräulichkeit nicht verletzte. Ihre erste Nacht war keine Nacht, sondern eine aufreibende Woche mit einem Gutsbesitzer, der so reich war wie der Ehemann, von dem sie inzwischen nicht mehr glaubte, ihn jemals kennenzulernen. Zwei Monate später hatte sie ein ganzes Bataillon und eine Abtreibung hinter sich. In ihrer freien Zeit schrieb sie Lügenbriefe an ihre Schwester.
Man wird nicht über Nacht zu einem anderen Menschen.Fast immer kämpfen die Kandidaten dagegen an, während sie sich nach und nach unausweichlich verwandeln. Eines Tages schämen sie sich so sehr für das, was aus ihnen geworden ist, dass sie sich nicht mehr davon abgrenzen. Statt dem Elend abzuschwören, verleugnen sie ihre romantischen Träume und zu hohen Ansprüche, die sie nur aus dem Gleichgewicht bringen. Einige nennen das Konformismus, andere nennen es Reife. Jedenfalls stöhnte Guita im Jahr 1928 auf Spanisch und brachte unvorsichtigen Mädchen bei, ihre Narben zu überschminken. Sie war eine furchtlose Hure, eine, die keinen Ärger mit nach Hause nahm, wenn sie denn eines gehabt hätte. Sie zog von einem Bett zum nächsten, bis in ferne Regionen wie Neuquén, Bariloche und die Sümpfe von Patagonien. Wenn die Umstände es erlaubten, beschrieb sie ihrer Schwester die Seen von Santa Cruz und die Pinguine von Feuerland. Sie bestand darauf, die Umschläge selbst zu versiegeln und zur Post zu bringen. Da hatte sie sich schon daran gewöhnt, Ausrutscher abzutreiben und an schlaffer Haut zu knabbern, niemals jedoch an die Vorstellung, Hannah die Wahrheit zu sagen. Allein
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