Hannas Entscheidung
ziehen. Da waren natürlich der Dreck, die Enge und die Masse an Menschen. Aber gleichzeitig das Forum Romanum, das Kolosseum, die Engelsburg, das Pantheon, die Via Appia, die Pieta von Michelangelo und all die Werke zahlreicher kleiner und großer Künstler.
Das Projekt von Professor Bartoli, in Auftrag gegeben von der katholischen Kirche, beinhaltete die Erfassung der Wandmalereien und deren Zustand in allen römischen Kirchen. Es sollte ein langfristiger Plan für den Erhalt und die Renovierungsbedürftigkeit der Malereien erstellt werden – ein ideales Doktorandenprojekt für Marco.
Hanna hatte in den drei Wochen so viel von den beiden Männern gelernt, mehr als in all der Literatur, die sie gelesen hatte. Marco war ein netter Typ, den sie nur anzustupsen brauchte, damit er sein Wissen mit ihr teilte, was aber mit eifersüchtigen Blicken von Sonja quittiert wurde. Immer wieder hängte sich Soso vertrauensvoll an Marcos Arm und klimperte mit ihren Augenlidern. Er nahm das gelassen hin. Hanna hatte noch nicht herausgefunden, ob der Student aus München an Sonja interessiert war oder nicht. Marco besaß eine wunderschöne Gesangsstimme, der sie gerne lauschte, wenn er von seiner Gitarre begleitet Lieder sang. Auch Sonja hatte eine eindrucksvolle Stimme, und wenn sie zusammen sangen, bekam Hanna eine Gänsehaut. Sie waren wie füreinander geschaffen, das Singen, die Kunst – sah Marco das nicht? Nein, Männer waren blind, wenn es um tiefe Gefühle ging, dachte Hanna im Stillen und verbot ihren Gedanken, in die Vergangenheit zurückzuwandern. Ihre Hand rutschte automatisch zu ihrem Hals, umfasste das schlichte goldene Kreuz. Unter ihren Fingern gewann es an Wärme. Sie konnte die Ruhe und Kraft spüren, die es ausstrahlte.
Hanna wusste, dass der Professor ihre ruhige Art mochte, ihre Konzentration bei der Arbeit, ihr Talent beim Fotografieren und ihr Gespür für das Auffinden von Stilrichtungen. All das war für die Restauration der Malereien äußerst wichtig. Sie erinnerte sich an ihre Überraschung, als sie den Brief mit der Einladung für das Praktikum erhalten hatte. Zwar gehörte der Professor zu den Personen, die ihre Hausarbeit korrigiert hatten, doch dass er sie deshalb einlud? Von den anderen wusste sie, dass es viele Bewerber für dieses Projekt gegeben hatte. Kürzlich hatte der Professor sich sogar erkundigt, ob sie sich vorstellen könnte, für längere Zeit in Rom zu bleiben. Ein faszinierender Gedanke, bei der Restauration der Kunstwerke helfen zu dürfen. Vielleicht wäre der Job sogar besser bezahlt als ihr jetziger. Sie könnte ihr Studium an der Fernuniversität genauso gut in Rom fortführen wie in Bonn. Hanna lächelte bei dem Gedanken. Es gab nur einen Haken dabei – Onkel Richard, den Freund ihres Vaters, ihren Patenonkel und Kardinal in Rom.
Ben sah Hanna zu, wie sie auf der Treppe genussvoll ihr Eis schleckte. Entspannt saß sie rechts am Rand, etwa in der Mitte der Treppe. Sie trug ihre Haare länger. Ihr Hemd hatte sie ausgezogen und in ihren Rucksack gesteckt. Die Sonne hatte Ihre Haut in einen Goldton verwandelt. Ihr Tattoo zeichnete sich deutlich knapp unter dem rechten Ärmel des T-Shirts ab. Ein Notizbuch lag auf ihren Beinen, die in einer leichten Cargohose steckten. Ihre Turnschuhe samt Socken hatte sie ausgezogen und unter sich auf die Treppe gestellt. Er fragte sich, was in diesem Buch auf ihrem Schoß war. Er lächelte, als er das goldene Kreuz in ihrem Ausschnitt sah – sein Geschenk. Oberst Hartmann hatte es Hanna also bei der Verhandlung übergeben.
Ben war sich nicht sicher gewesen, ob sie es annehmen würde. Doch sie hatte es getan, und dass sie es trug, ließ eine warme Welle durch seinen Körper fluten. Noch mehr, als sie danach griff und es mit den Fingern umschloss. Es war, als würde sie ihn berühren. Er sah die Blicke von Männern, die Hanna streiften, während sie auf eine unverschämt genussvolle Art ihr Eis leckte. Aber es lag eine Vorsicht gebietende Aura um sie und ließ die Männer Abstand halten. Nicht zu Unrecht, wie Ben aus eigener Erfahrung wusste. Hanna konnte sich ihrer Haut wehren, wenn es darauf ankam. Sie hatte sich verändert und das lag nicht nur an den braunen Strähnen in ihrem eigentlich schwarzen Haar oder an dem Grün, ihrer normalerweise himmelblauen Augen, das sie mit gefärbten Kontaktlinsen erreichte. Augen, die ihn vom ersten Moment an in ihren Bann gezogen hatten. Nein, ihr Blick erschien ihm offener als früher. Sie besaß
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