Hannas Entscheidung
Gedämpft drang die Stimme von Schwester Valentina an ihr Ohr. »Möchten Sie an der Vesper teilnehmen?«
Hastig stopfte Hanna das Geschenk unter ihr Kopfkissen. Sie stand auf, straffte die Schultern und wischte sich über die Augen. Nein, besser auch noch die Nase putzen, bevor sie die Tür aufmachte.
Aufmerksam musterte Schwester Valentina sie. Sie war so klein, dass sie zu Hanna aufsehen musste. »Ist alles in Ordnung mit Ihnen?«
»Ja.« Hanna rang sich ein Lächeln ab und folgte der Schwester in einen Raum, der den Ordensfrauen als Gebetsraum diente.
Der gewohnte Rhythmus der Vesper und die vertrauten Worte beruhigten ihr aufgewühltes Gemüt. Ihre Hände zitterten nicht mehr, nur das Ziehen in ihrem Herzen wollte nicht aufhören.
Später schöpfte Hanna im gemeinsamen Beten die Kraft, um das Paket von Ben zu öffnen. Nachdem sie sich gewaschen und ihr altes Schlafshirt angezogen hatte, wickelte sie sich sicherheitshalber in die Strickjacke ihres Vaters. Umhüllt von seiner Wärme und Liebe riss sie das Papier auf. Vorsichtig umschlossen ihre Hände den dunkelbraunen, abgenutzten Einband. Die goldenen Buchstaben darauf leuchteten ihr entgegen: Mit den Augen von Hanna . Sie schlüpfte unter die Decke, rollte sich ein und lehnte das Album an das Nachtkästchen. Lange starrte sie darauf, bevor sie es öffnete. Sie hatte es als Geschenk von ihrem Vater bekommen, vor langer, langer Zeit. Ungewöhnlich, dass er dafür ihren abgekürzten Namen verwendet hatte. Es war mit Fotos gefüllt, die sie gemeinsam an einem Wochenende gemacht hatten.
Glaube an dich. Betrachte die Welt in ihrer Einzigartigkeit. Sieh all das Schöne, das dich umgibt, und halte es fest. Dann erkennst du, dass es nichts zweimal auf Erden gibt. – Dein Papa, der seine kleine Johanna von Orleans so liebt, wie Gott sie ihm gab und nicht anders.
Sie flüsterte die Worte beim Lesen vor sich hin. Es tat weh, aber gleichzeitig fühlte sie eine innere Ruhe. Sie hatte das Album nie zu Ende geführt. Sie hatte es so gelassen, doch jetzt waren die letzten Seiten gefüllt mit weiteren Bildern: Marie und Silvia, ihre Mutter, sie selbst, fotografiert von einem afrikanischen Jungen, und zuletzt ein Bär. Sie starrte das letzte Foto an und fragte sich, wann er es ihr geklaut hatte. Warum liebte sie einen Mann, der sie ständig zu manipulieren versuchte und ihr alles weggenommen hatte, was ihr in ihrem Leben überhaupt geblieben war? Und das alles für eine Gerechtigkeit, die keine war, denn sie brachte kein Leben zurück. Aber sie verhindert, dass weiteres Leben geopfert wird, hörte sie die leisen, mahnenden Worte ihres Vaters im Kopf. »Und was ist mit mir? Was ist mit meinem Leben?«, fragte sie ihn. Doch die Antwort blieb aus, wie immer, wenn sie diese Frage stellte. Armin Ziegler – verurteilt zu fünf Jahren, weil er Reue gezeigt hatte, wegen seines sozialen Engagements sowie dem Fehlen einer erpresserischen Absicht. Lukas Benner hatte lächerliche sieben Jahre bekommen. Hanna schloss das Album, stand auf und packte es in ihre Tasche, ganz nach unten. Wie immer er an das Album herangekommen war, sie war ihm dankbar dafür, dass sie es wiederhatte, denn es gehörte zu ihr.
4 Sightseeing
A ls Hanna am nächsten Morgen um acht die Pension verließ, wartete Ben bereits auf sie. Er lehnte auf der anderen Straßenseite an einer Hauswand, einen Fuß angewinkelt an der Wand, mit dem er sich abstieß, bevor er auf sie zukam. Er lächelte, zog seine Kapuze vom Kopf und nahm die Kopfhörer aus den Ohren. Seine Füße steckten in Turnschuhen. Er trug eine Kaki-Bermuda, ein schwarzes T-Shirt und darüber seine übliche Kapuzen-Sweatshirtjacke, alles weit geschnitten. Obwohl er einen halben Kopf größer als sie war, wirkte er in den Klamotten weniger groß. Seine braunen Haare waren ungewöhnlich lang für ihn. Das letzte Mal, als sie ihn außerhalb von Rom gesehen hatte, war sein Haar so kurz gewesen, dass sie es mit den Händen nicht zu greifen vermochte. Es faszinierte Hanna, wie harmlos Ben in seiner Alltagskleidung aussah. Ein Jäger, der sein Opfer in Sicherheit wiegte. Sein Gesicht war etwas blasser um die Nasenspitze, obwohl es die tiefe Bräune der afrikanischen Sonne besaß.
»Zeigst du mir Rom?«
Seine Augenbrauen fragend in die Höhe gezogen, blieb er in sicherem Abstand vor ihr stehen. Statt eine Antwort zu geben, wandte sich Hanna um und schlug den Weg zur Spanischen Treppe ein. Ihre Schritte waren zügig, doch das stellte für Ben kein Problem
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