Hannes - Falk, R: Hannes
08.01.
Hannes, mein Freund,
ich schreibe hier aus deinem Zimmer. Sitze auf dem Fensterbrett und lasse dich kaum aus den Augen. Mal ein Blick in die alte Kastanie, mal ein paar Zeilen aufs Blatt. Ansonsten hab ich mein Auge auf dir ruhen und bewache jeden deiner Atemzüge. Von Zeit zu Zeit saug ich dir den Rotz aus der Kehle, damit du mir nicht erstickst. Die Schwestern kommen regelmäßig, und auch der Schnauzbart ist sehr fürsorglich. Er wollte mich nicht zu dir reinlassen. Er wollte niemand zu dir reinlassen. Ich hab dann gesagt: »Der Hannes liegt da mit dieser miesen Grippe und niemand ist da, der seine Hand hält. Ich bin völlig gesund und geh da jetzt rein.« Der Schnauzbart hat gesagt, ich kann da nicht rein, weil ich mich sonst anstecken könnte. Weil ich mich sonst anstecken könnte! Ich hab ihn gefragt,ob er ’nen Vogel hat, hab mir ’nen Mundschutz rumgemacht und bin zu dir rein. Und da bin ich jetzt eben und halte deine Hand. So, wie es sich gehört. Und so, wie du’s auch für mich gemacht hättest, nicht wahr, Hannes? Wir werden das schon hinkriegen, mein Freund. Schließlich haben wir jetzt nicht fast ein Jahr hart an deinen Unfallfolgen gearbeitet, damit dich zum Schluss eine dämliche Grippe hinwegrafft, oder?
Dienstag, 09.01.
Es geht dir nicht gut, mein Freund. In Wahrheit geht es dir beschissen. Dein schmaler Körper windet sich in Krämpfen, du erbrichst dich ständig, bis nur noch Galle kommt, und deine fiebrigen Augen blicken dankbar, wenn ich dir den Schleim absauge. Es ist erbärmlich. Im Korridor vor deiner Tür sind deine Freunde, Hannes. Alle sind da, und sie halten sich an den Händen. Die Nele ist da mit dem Kind und der Kalle. Dein Vater ist da, deine Mutter noch nicht, sie ist noch zu schwach. Und der Rick ist da und sitzt mit seiner Tarnuniform und kahlem Schädel vor deiner Tür. Der Brenninger kommt zwischen all seinen Lieferungen samt Kappe und T-Shirt mit Firmenaufschrift und hat Schnittchen dabei. Sie alle sitzen draußen vor deiner Tür, halten sich an den Händen oder nehmen sich in den Arm – und sie schweigen. Ich schau ab und zu durch das kleine Fenster und es rührt mich zu Tränen, wie sie da sitzen. Dann muss ich zurück zu dir, weil du wieder röchelst oder krampfst. Aber ich bin da und wir kriegen das hin, mein Freund.
Mittwoch, 10.01.
Heute sind die Feldjäger gekommen, Hannes, und haben den Rick geholt. Komisch, keinem von uns ist aufgefallen, dass er eigentlich gar nicht hier sitzen dürfte. Dass er längst zurückmüsste in die Kaserne. Aber sie haben ihn schließlich gefunden und geholt. Der Rick hat geschrien und um sich getreten und gesagt, er würde sie abknallen. Und zwar alle. Aber das hat ihm nichts geholfen. Sie haben ihn mit Handschellen abgeführt wie einen Verbrecher, und er hat durch die Gänge geschrien: »Sag dem Hannes, dass ich zurückkomm, Uli! Sag das dem Hannes!« Und ich hab es dir gesagt. Du hast aber naturgemäß nicht reagiert.
Du bist nicht ansprechbar und öffnest noch nicht mal deine rot unterlaufenen Augen einen winzigen Spalt, um mich mit einem fiebrigen Blick dankbar anzusehen. Gar nichts. Es passiert gar nichts. Du röchelst und ich beobachte dich. Die alte Kastanie steht ohne jedes Zierwerk stolz und stark vor deinem Fenster. Und du liegst da und röchelst. Ich drücke deine Hände und rede mit dir. Und du kannst noch nicht einmal zurückdrücken. Ich bin müde und mir ist kalt und ich hab einfach keine Kraft mehr, Hannes.
Später. Auf deiner Fensterbank bin ich wohl eingeschlafen. Dann hab ich diesen komischen Traum gehabt: Ich sitze in einem Bus, irgendwo in den hinteren Reihen, und schaue durch das gegenüberliegende Fenster. Außer mir ist kein Fahrgast im Bus, nur der Fahrer und vermutlich der Reiseleiter, jedenfalls ist dieser Platz besetzt. Ich kann ihre Gesichter natürlich nicht sehen, weil sie mit dem Rücken zu mir sitzen. So seh ich eben durch das Fenster und wir fahren durch eineverschneite Waldlandschaft. Es ist schön. Nach einer Weile merk ich, wie sich das Tempo langsam erhöht, und allmählich wird die Fahrt ziemlich rasant. Die schneebedeckten Äste der Bäume streifen den Bus und der Schnee stäubt davon in alle Richtungen. Die Straße ist eng und kurvig und mit ziemlich hoher Wahrscheinlichkeit ist sie sehr glatt. Dennoch wird die Fahrt schneller und schneller, und plötzlich sagt jemand: »Er sollte das Tempo rausnehmen.« Das waren auch meine Gedanken. Ich nehme den Blick von der Fensterscheibe
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