Hannes - Falk, R: Hannes
wahr, mein Freund? Diesmal habe ich aber im Vorfeld alles haarklein geplant und hatte zuvor schon die offizielle Erlaubnis von Dr. Klaus Schnauzbart gnädig erhalten, nachdem ich versprochen hab, all seine Anweisungen einzuhalten. Was ich natürlich auch getan hab. Also hab ich dich in einen grünen Plastikzweiteiler gesteckt, den mir die Schwestern aus dem OP besorgt haben. Dein Mundschutz hatte dieselbe Farbe, darüber eine Brille, ebenfalls aus dem OP, und über der dann die Kappe mit der Aufschrift »Partyservice Brenninger«. Dazu hast du den Schal von der Frau Stemmerle getragen und die Wollhandschuhe vom Bonsai. Das war perfekt. So bist du dann in deinem Rollstuhl gesessen und ich hab dich durch die Gänge chauffiert. Die Schwestern haben ein Foto von uns gemacht.
Wir sind mit dem Aufzug rauf und runter und haben danach durch hundert Fenster geschaut. Haben gesehen, wie es draußen dunkel wurde und die Straßenlaternen angingen. Haben hetzende Menschen mit hochgeschlagenen Krägen gesehen und Autos, die an Ampeln anhalten und wieder weiterfahren. Haben schreiende Kinder an den Händen genervter Mütter gesehen und Geschäftsleute mit Aktentaschen. Haben die blinkende Leuchtreklame gesehen und Lichterketten hier und dort. Alles, was eben normal ist und ständig passiert. Aber du bist ganz erregt an der Scheibe geklebt und hast siemit deinem Atem beschlagen. Hast alles in dich aufgesaugt, was du schon seit Monaten nicht mehr gesehen hast. Und als ich dich später aus deiner Verkleidung geschält hab, bist du gleich eingeschlafen. Hab dich ins Bett gelegt und zugedeckt. Das war eine aufregende Sache heute, nicht wahr, Hannes?
Sonntag, 31.12.
Mein lieber Freund,
heute ist der letzte Tag des Jahres. Es war ein hartes Jahr und auch ein schönes. In jedem Fall aber das ungewöhnlichste, das wir beide jemals hatten. Und wenn ich ehrlich bin, darf ’s in Zukunft gerne wieder etwas gewöhnlicher werden. Es darf gern wieder der Alltag einkehren in unser Leben, der uns so oft gelangweilt hat und den ich mir jetzt so herbeisehne. Ich möchte im Sommer wieder mit dir am Baggerweiher sitzen und Steine floppen lassen und hundertmal fragen: »Was machen wir jetzt?« Möchte im Winter mit dir ins Eisstadion fahren und nach einer niederschmetternden Niederlage ganz viel Bier trinken. Dann jeden einzelnen Spielzug kritisieren und das ganze Match in alle Einzelteile zerreden. Ich möchte, dass du wieder auf meiner Couch sitzt und Löcher hineinbrennst. Ich möchte mich wieder darüber aufregen und dein versöhnliches Grinsen sehn. Aber du bist auf einem guten Weg, mein Freund.
Hab gestern deine Mutter mitsamt der kleinen Joco bei dir angetroffen, und die hat erzählt, dass du ab Januar einen Logopäden kriegst. Der macht dann mit dir Sprechübungen bis zum Abwinken. Danach kannst du mir alles erzählen,Hannes, jede Wette. Alles, was du so gesehen hast durch deinen winzigen Spalt in den Augen. Und was du gehört hast, als wir alle bei dir waren. Oder was du empfunden hast, als keiner mehr bei dir war, weil es alle satthatten, deinen wackeligen Kopf zu betrachten. Das alles kannst du mir erzählen und ich werd zuhören jede Sekunde, ich schwör’s. Ich werd an deinen Lippen kleben und deine allerersten Worte herbeisehnen. Werde deine allerersten Schritte herbeisehnen, wie eine Mutter bei ihrem Kind. Und ich freu mich auf das Jahr, das vor der Tür steht, Hannes. Ja, das tu ich.
War vorher noch kurz bei dir drin und die Schwestern haben mir gesagt, dass du heute Abend ein Schlafmittel bekommst, wie alle anderen, die Ruhe brauchen. Damit euch die blöde Knallerei in der Nacht halt nicht aufregt. Nun muss ich langsam los. Bin vorhin ein letztes Mal meinen Text durchgegangen, schließlich sind es nicht weniger als fünf Rollen, die ich zu spielen hab, und das alles auch noch im Stehen. Die Walrika dagegen hat nur eine einzige und darf sitzen. Hab sie auch gefragt, ob sie mit mir tauschen möchte, sie hat aber große Probleme, als Admiral von Schneider ihre Hacken zusammenzuschlagen. Na ja. Werde also jetzt aufbrechen und melde mich im neuen Jahr zurück. Und es wird unser Jahr, mein Freund!
Montag, 01.01.
Ein gutes neues Jahr, Hannes. All meine Wünsche für dich hab ich dir gestern schon niedergeschrieben, und daran hat sichnichts geändert. Es ist jetzt gleich halb elf am Vormittag, und ich werde nun der Reihe nach von meinen letzten Stunden berichten. Bin also gestern ins Vogelnest gefahren und hab mich zuerst
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