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Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt

Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt

Titel: Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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nichts, was ich für dich tun kann?«
    »Du tust doch so viel für mich!«, entgegne ich.
    Sie hört auf zu polieren, setzt sich auf einen Stuhl und sieht mich unverwandt an. »Ich rede nicht von solchen Sachen hier. Ich meine etwas Besonderes. Zum Beispiel, mit dir ins Bett zu gehen. So was.«
    Ich schüttele den Kopf. »Nein, ich will nicht mit dir schlafen. Es freut mich natürlich, dass du es mir anbietest.«
    »Warum denn nicht? Du brauchst mich doch, oder?«
    »Ich brauche dich, ja. Aber ich kann nicht mit dir schlafen, zumindest jetzt noch nicht. Das hat mit brauchen oder nicht brauchen gar nichts zu tun, das ist ein ganz anderes Problem.«
    Eine Weile sitzt sie da, in Gedanken versunken. Dann fängt sie aber langsam wieder an, den Schädel zu polieren. Mit zurückgelehntem Kopf starre ich unterdes die hohe Decke und die von dort herunterhängende gelbe Birne an. Ich kann hier und jetzt nicht mit ihr schlafen – da mag meine Seele noch so verspannt sein und der Winter mir noch so zusetzen. Es würde meine Seele nur noch mehr verwirren, als sie ohnehin schon ist, und das Gefühl des Verlustes würde nur noch stärker. Außerdem habe ich das unbestimmte Gefühl, die Stadt will, dass ich mit ihr schlafe. Weil es dann nämlich einfacher wäre, an meine Seele heranzukommen.
    Sie setzt den blank polierten Schädel vor mich hin, doch ich lege meine Hände nicht darauf, sondern betrachte ihre Hände auf dem Tisch. Als würde ich irgendeinen Sinn daraus ablesen können. Aber das ist unmöglich. Es sind einfach nur zehn schlanke Finger, nichts weiter.
    »Erzähl mir mehr von deiner Mutter!«
    »Was denn?«
    »Egal, irgendwas.«
    »Tja …«, sagt sie und berührt dabei den Schädel auf dem Tisch. »Ich glaube, für meine Mutter habe ich ganz etwas anderes empfunden als für alle anderen Menschen. Natürlich, das liegt weit zurück, und ich kann mich nicht mehr so genau erinnern, aber irgendwie weiß ich, dass mein Gefühl ihr gegenüber ein anderes war als das, was ich für meinen Vater oder meine Schwestern empfinde. Warum, weiß ich allerdings nicht.«
    »So ist das nun mal mit der Seele. Sie funktioniert nie gleichmäßig. Sie ist wie ein Fluss, der sich mit der Landschaft ändert, durch die er fließt.«
    Sie lächelt. »Man könnte auch ungerecht dazu sagen.«
    »Ja, das stimmt, so ist das nun mal«, sage ich. »Außerdem hast du deine Mutter doch jetzt immer noch gern, oder?«
    »Wie soll ich das wissen?«
    Sie dreht den Schädel auf dem Tisch ein paar Mal hin und her und starrt die ganze Zeit darauf.
    »Ist dir die Frage zu undeutlich?«
    »Ja, vielleicht, das könnte sein, ja.«
    »Gut, dann andersherum: Weißt du noch, welche Dinge deine Mutter mochte?«
    »Ja, das weiß ich noch ganz genau. Die Sonne, spazieren gehen, im Sommer im Wasser planschen, ja, und mit den Einhörnern spielte sie auch gerne. An warmen Tagen haben wir immer lange Spaziergänge gemacht. Die Leute hier tun das normalerweise nicht. Du gehst doch auch gerne spazieren, oder?«
    »Ja, sehr gerne«, sage ich. »Und Sonne und Wasser mag ich auch. – Sonst fällt dir nichts ein?«
    »Doch. Dass sie zu Hause oft zu sich selbst sprach. Aber ich weiß nicht, ob man das als etwas bezeichnen könnte, was sie gerne machte – sie hat jedenfalls immer mit sich selbst geredet.«
    »Worüber denn?«
    »Das kann ich nicht mehr sagen. Aber es waren keine Selbstgespräche im gewöhnlichen Sinne. Ich kann nicht erklären, warum, aber für Mutter müssen sie irgendwie einen besonderen Sinn gehabt haben.«
    »Einen besonderen Sinn?«
    »Ja, sie redete dann nämlich immer mit einer ganz komischen Betonung, dehnte die Wörter und zog sie wieder schnell zusammen, oder sie sprach mal hoch und mal tief – es hörte sich an wie der Wind, wenn er heult.«
    Ich starre auf den Schädel in ihren Händen und durchwate dabei noch einmal die Nebel meines Gedächtnisses. Und diesmal werde ich fündig.
    »Ein Lied! Sie hat gesungen!«, sage ich.
    »Kannst du auch so reden?«
    »Ein Lied redet man nicht, man singt es.«
    »Sing doch mal«, sagt sie.
    Ich hole tief Luft und will irgendetwas singen, aber mir fällt nichts ein. Alle Lieder sind aus meiner Brust verschwunden. Ich schließe die Augen und seufze.
    »Ich kann nicht. Mir fällt kein Lied ein«, sage ich.
    »Was kann man machen, damit dir wieder eins einfällt?«
    »Wenn ich einen Plattenspieler mit einer Schallplatte hätte … Nein, das ist wahrscheinlich zu kompliziert. Ein Musikinstrument täte es auch. Wenn

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