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Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt

Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt

Titel: Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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Wenn man lange im Krankenhaus liegt, erscheinen einem diese Dinge wie das Leben selbst. Warst du schon mal im Krankenhaus?«
    »Nein«, sagte ich. Meistens strotze ich vor Gesundheit, wie der Bär im Frühling.
    »Es gab rot gefiederte Vögel mit schwarzen Häubchen, die immer in Pärchen auftraten. Die Stare dagegen hielten sich unauffällig zurück, wie Bankangestellte. Nur wenn der Regen nachließ, setzten sich alle unterschiedslos auf die Äste und zwitscherten.
    In der Welt geht es schon merkwürdig zu, dachte ich damals. Auf der Welt wachsen Milliarden, ja Billionen von Kampferbäumen – natürlich müssen es keine Kampferbäume sein –, auf die scheint die Sonne und fällt der Regen, und Milliarden und Billionen von Vögeln kommen, hocken sich auf die Äste und fliegen wieder weg. Bei diesem Gedanken wurde mir ganz traurig zumute.«
    »Wieso denn?«
    »In der Welt gibt es unendlich viele Bäume, unendlich viele Vögel, unendlich viel Regen, dachte ich, und ich schaffe es nicht einmal, einen einzigen Kampferbaum und einen einzigen Regen zu begreifen. Nie würde ich das schaffen. Ich dachte, ich müsste alt werden und sterben, ohne je auch nur einen Kampferbaum und einen einzigen Regen begriffen zu haben. Ich fühlte mich so allein, dass ich weinen musste. Wenn mich nur jemand in den Arm nehmen würde, dachte ich. Aber ich hatte niemanden. Ich lag die ganze Zeit in meinem Bett und weinte.
    Bald ging die Sonne unter, es wurde dunkel, sodass ich die Vögel nicht mehr sehen konnte. Deshalb wusste ich auch nicht mehr, ob es noch regnete oder schon aufgehört hatte. An dem Abend fanden alle von meiner Familie den Tod. Gesagt hat man mir das aber erst viel später.«
    »Das muss schlimm gewesen sein.«
    »Ich weiß es gar nicht mehr genau. Ich glaube, ich habe überhaupt nichts gefühlt. Genau weiß ich nur noch, dass mich an diesem regnerischen Herbstabend niemand in den Arm nahm. Das war … das war für mich das Ende der Welt. Wenn es dunkel ist und du dich grenzenlos elend und einsam fühlst und du dir einzig und allein wünschst, dass dich jemand in den Arm nehmen möge, aber niemand, keine Menschenseele da ist, dich zu trösten, weißt du, wie das ist?«
    »Ich glaube, ja«, sagte ich.
    »Hast du schon einmal einen geliebten Menschen verloren?«
    »Ein paar Mal.«
    »Lebst du deshalb jetzt für dich allein?«
    »Nein«, sagte ich und strich mit den Fingern über das Nylonseil an meinem Gürtel. »In dieser Welt kann niemand für sich allein leben. Alle haben ein bisschen miteinander zu tun. Regen fällt, Vögel zwitschern. Man bekommt den Bauch aufgeschlitzt, und es kann vorkommen, dass man im Finstern von einem jungen Mädchen geküsst wird.«
    »Aber ohne Liebe ist die Welt doch praktisch nichts«, sagte das dicke Mädchen.
    »Ohne Liebe ist die Welt wie der Wind, der draußen vor dem Fenster weht. Man kann ihn weder fühlen noch riechen. Du kannst dir Callgirls rufen, sooft du willst, du kannst mit so vielen Bekanntschaften ins Bett hüpfen, wie du willst, das ist nicht echt. Von denen nimmt dich keine richtig in den Arm.«
    »So oft rufe ich mir gar keine Callgirls, und so oft hüpfe ich nicht mit x-beliebigen Frauen ins Bett«, protestierte ich.
    »Das macht keinen Unterschied«, sagte sie.
    Nun ja, sie hatte Recht. Keine von denen nahm mich richtig in den Arm. Und ich nahm auch keine richtig in den Arm. Ich wurde älter, allein und einsam wurde ich älter, wie eine Seegurke auf dem Meeresgrund, die an ihrem Felsen klebt.
    Ich ging in Gedanken versunken weiter, merkte deshalb nicht, dass sie stehen geblieben war, und prallte gegen ihren weichen Rücken.
    »Entschuldige!«, sagte ich.
    »Psst!«, machte sie und packte mich am Arm. »Da sind Geräusche. Hör mal!«
    Wir standen still und lauschten auf ein aus der fernen Dunkelheit heranziehendes Rollen. Es kam von weit vorne auf dem Weg, den wir entlangmarschierten, und war so schwach, dass man es leicht hätte überhören können. Ein schwaches Dröhnen, das sich zugleich aber anhörte, als würden massive Metallblöcke gegeneinander verschoben. Was es auch sein mochte, es dröhnte pausenlos und wurde immer lauter. Ein Geräusch wie ein großes Insekt, das einem kalt und eklig den Rücken heraufkriecht. Ein tiefes Vibrieren, das gerade noch im menschlichen Hörbereich lag.
    Selbst die Luft geriet in Wallung. Ein zäher Wind strich über uns hin, schwer wie von Wasser fortgespülter Schlamm. Ein feuchter, kalter Wind. Ein Ereignis kündigte sich an.
    »Ob

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