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Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt

Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt

Titel: Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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erledige einen oder zwei Schädel, und meine Augäpfel beginnen durch die von den alten Träumen freigesetzten Strahlen zu stechen, als würden sie mit Nadeln malträtiert. Die Augenhöhlen fühlen sich zudem schwer an, wie mit Sand gefüllt, und meine Fingerspitzen werden stumpf und unempfindlich.
    Die Bibliothekarin massiert mir nach solchen Tagen immer mit einem kalten, feuchten Tuch die Augen und macht mir eine dünne Brühe oder heiße Milch. Beides schmeckte mir zu Anfang nicht. Die Konsistenz ist seltsam sandig, jede Milde fehlt, aber mittlerweile habe ich mich daran gewöhnt und schätze den Geschmack sogar.
    Das sage ich ihr, und sie lächelt glücklich.
    »Das heißt, du hast dich allmählich hier eingelebt«, sagt sie. »Alles, was wir hier essen und trinken, schmeckt ein wenig anders als überall sonst. Wir müssen mit ganz wenigen Nahrungsmitteln auskommen, um die verschiedensten Sachen zu produzieren. Was wie Fleisch aussieht, ist gar kein Fleisch, die Eier sind keine Eier und der Kaffee kein Kaffee. Alles sieht nur so aus, ist nur nachgemacht. Aber die Brühe ist sehr gesund. Sie hat dich doch aufgewärmt, und dein Kopf tut auch nicht mehr so weh, oder?«
    »Stimmt«, sage ich.
    Ohne Frage, die Brühe hat mir gut getan, und mein Kopf fühlt sich längst nicht mehr so schwer an wie vorhin. Ich bedanke mich für die Suppe, schließe die Augen und schalte Körper und Geist ab.
    »Brauchst du jetzt nicht etwas?«, fragt sie mich.
    »Ich? Etwas anderes als dich?«
    »Ja, irgendwie kommt es mir so vor, ich weiß auch nicht genau. Ich meine, wenn du dieses Etwas hättest, ob dadurch nicht vielleicht deine wintersteife Seele ein wenig lockerer würde?«
    »Was ich brauche, ist Sonnenlicht«, sage ich, nehme die dunkle Brille ab, putze die Gläser mit einem Tuch und setze sie wieder auf.
    »Aber das geht nicht. Weil meine Augen kein Sonnenlicht vertragen.«
    »Nein, etwas viel Einfacheres, bestimmt. Irgendeine Kleinigkeit, die die Seele entspannt. Zum Beispiel so wie eben, als ich dir die Augen massiert habe. So etwas gibt es doch sicher auch für die Seele, oder? Irgendeine Methode, um sie aufzulockern, erinnerst du dich nicht? Was habt ihr denn in eurer Welt gemacht, wenn euch die Seele steif wurde?«
    Ich nehme mir Zeit, jedes einzelne Fitzelchen Erinnerung zu durchforsten, das mir geblieben ist, komme aber auf nichts, was annähernd ihren Vorstellungen entsprechen könnte.
    »Ich weiß es nicht mehr, beim besten Willen nicht. Ich muss fast alle meine Erinnerungen verloren haben.«
    »Es mag noch so eine Nichtigkeit sein, sag bitte alles, was dir einfällt, sofort, ja? Komm, lass uns zusammen darüber nachdenken. Ich möchte dir so gerne helfen, wenigstens ein kleines bisschen.«
    Ich nicke und versuche noch einmal mit aller Kraft und Konzentration, zu den verschütteten Erinnerungen an die alte Welt vorzudringen. Doch davor liegen Felsblöcke, fest und unverrückbar – sie bewegen sich keinen Millimeter, sosehr ich mich auch dagegenstemme. Mein Kopf beginnt wieder zu schmerzen. Mit dem Tag, an dem ich mich von meinem Schatten getrennt habe, scheine ich meine Identität unwiederbringlich verloren zu haben. Zurück blieb in mir bloß diese Seele, unsicher und sinnlos. Und jetzt, wo es Winter ist, verspannt und verschließt sie sich auch noch!
    Sie legt mir ihre Hände auf die Schläfen.
    »Schon gut, schon gut. Wir denken ein andermal weiter. Vielleicht fällt dir ja auch ganz zufällig was ein.«
    »So, ich lese jetzt noch einen alten Traum«, sage ich.
    »Aber du siehst schon so müde aus. Ist es nicht besser, morgen weiterzumachen? Du darfst dich nicht überanstrengen. Die alten Träume laufen dir nicht weg.«
    »Nein, Träume zu lesen ist für mich immer noch besser als Nichtstun. Dann brauch ich wenigstens nicht nachzudenken.«
    Sie sieht mich eine Weile an, nickt dann aber, steht auf und verschwindet im Magazin. Ich bleibe am Tisch sitzen, stütze den Kopf in die Hände, schließe die Augen und lasse mich von Dunkelheit umspülen. Wie lange der Winter wohl noch dauern wird? Ein langer, harter Winter, hat der Alte gesagt. Und er hat gerade erst angefangen! Ob mein Schatten diese lange Zeit wohl überstehen wird? Und ich mit meiner verwirrten, ungefestigten Seele – werde ich ihn selbst überstehen können?
    Sie stellt den Schädel auf den Tisch, wischt wie immer mit einem feuchten Tuch den Staub ab und poliert ihn dann mit einem trockenen blank. Plötzlich hebt sie den Kopf und sagt: »Gibt es denn

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