Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt
es ein Erdbeben gibt?«, sagte ich.
»Nein, kein Erdbeben«, sagte meine dicke Gefährtin. »Etwas viel, viel Schlimmeres.«
22 DAS ENDE DER WELT
GRAUER RAUCH
Wie der Alte vorausgesagt hat, steigt jetzt Tag für Tag grauer Rauch auf. An einer Stelle irgendwo im Apfelwäldchen steigt er hoch und wird sofort von einer dicken, düsteren Wolke am Himmel verschlungen. Je länger ich hinschaue, desto überzeugender erscheint mir die Vorstellung, im Apfelwäldchen würden alle Wolken dieser Welt produziert. Nachmittags, auf den Schlag genau um drei, beginnt der Rauch aufzusteigen; das Ende hängt ganz von der Anzahl der toten Tiere ab. Am Tag nach einem heftigen Schneegestöber oder einer strengen Frostnacht hält sich die dicke Rauchsäule stundenlang, wie bei einem Waldbrand.
Ich begreife nicht, warum die Menschen sich nicht etwas einfallen lassen, um die Tiere zu retten.
»Warum baut ihr nicht Ställe für sie oder so was?«, frage ich den Alten beim Schach. »Warum schützt ihr die Tiere nicht vor Kälte, Schnee und Wind? Es muss ja nichts Großartiges sein. Mit einem Dach und ein paar Zäunen könnte man schon viele retten!«
»Das hat alles keinen Zweck«, sagt der Alte, ohne die Augen vom Brett abzuwenden. »Stell dir vor, wir bauten Ställe – die Tiere würden ja gar nicht da hineingehen. Seit ewigen Zeiten schlafen sie unter freiem Himmel. Selbst wenn sie ihr Leben dabei verlieren. Kälte, Schnee und Wind sind ihre Gefährten!«
Der Oberst zieht seinen Läufer frontal vor meinen König und macht seine Blockade damit unüberwindlich: Zu beiden Seiten des Läufers hat er mit zwei Hörnern eine Schusslinie aufgebaut. Er wartet nur auf meinen Angriff.
»Das klingt ja fast, als würden sich die Tiere darum reißen, Not zu leiden und zu sterben!«, sage ich.
»In gewissem Sinne mag das tatsächlich so sein. Aber für sie sind Kälte und Not ganz natürlich, vielleicht sogar wie eine Erlösung.«
Der Alte verstummt; ich kann mich mit meinem Affen an seine Mauer heranschleichen. Ich will die Mauer zum Zug provozieren. Der Oberst fällt auch beinahe darauf herein, besinnt sich aber in letzter Minute, zieht stattdessen seinen Springer ein Feld nach hinten zurück und hat damit sein Verteidigungsnetz so eng gezogen wie ein Nadelkissen.
»Du wirst allmählich auch immer hinterlistiger!«, sagt der Alte und lacht.
»Mit Ihnen kann ich aber immer noch nicht mithalten!« Ich lache auch. »Aber, um noch mal auf eben zurückzukommen, was meinten Sie mit ›Erlösung‹?«
»Na, dass sie vielleicht durch den Tod erlöst werden. Natürlich sterben die Tiere, aber im Frühling erwacht neues Leben. Mit ihren Jungen.«
»Und die Jungen wachsen wieder heran und müssen genauso Not leiden, bis sie sterben, nicht wahr? Warum müssen sie nur so leiden?«
»Weil es Vorschrift ist«, sagt der Alte. »Du bist dran. Du musst schon meinen Läufer schlagen, eine andere Chance zu gewinnen hast du nicht mehr.«
Nach drei Tagen Schnee mit kleineren Unterbrechungen schlägt das Wetter in strahlenden Sonnenschein um: Die weiß befrorenen Straßen werden urplötzlich von grellem Licht überflutet, und bald tropft und gluckert das Tauwasser. Überall blitzt es und funkelt es, und immer wieder hört man Schneeklumpen mit Getöse von den Ästen fallen. Ich ziehe die dicken Vorhänge millimetergenau vors Fenster und bunkere mich in meinem Zimmer ein, um dem Licht auszuweichen. Aber es nützt alles nichts – es gibt kein Entkommen. Die Stadt aus Eis wirkt wie ein präzise geschliffener Riesenbrillant, der das Sonnenlicht in jeden Winkel reflektiert, es seltsam direkt ins Zimmer und in meine Augen katapultiert.
Den ganzen Nachmittag liege ich bäuchlings mit einem Kissen über dem Kopf auf dem Bett und lausche den Vögeln – ganz verschiedene Arten mit dem unterschiedlichsten Gezwitscher. Sie setzen sich kurz auf mein Fensterbrett und fliegen dann zum nächsten, denn sie wissen ganz genau, dass die alten Männer des Beamtenviertels immer Brotkrumen für sie streuen. Ich höre auch die Stimmen der Alten, die vor den Häusern in der Sonne sitzen und schwatzen. Nur ich allein bin ausgeschlossen vom Segen der warmen Sonne.
Als es dunkel geworden ist, stehe ich auf, kühle meine geschwollenen Augen mit kaltem Wasser, setze die dunkle Brille auf und steige den verschneiten Hügel hinab zur Bibliothek.Viele Träume kann ich diesmal jedoch nicht lesen, das ist immer so nach Tagen, an denen grelles Licht meine Augen verletzt hat. Ich
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