Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt
ich auf einem Instrument herumklimpern könnte, würde mir vielleicht ein Lied einfallen.«
»Wie sah denn so ein ›Musikinstrument‹ aus?«
»Das kann man nicht so einfach in einem Satz beschreiben, es gibt Hunderte. Sie werden völlig unterschiedlich bedient, und der Klang der Töne ist je nach Art des Instruments verschieden, ganz zu schweigen von Größe und Form: Es gibt Musikinstrumente, die so groß sind, dass man sie zu viert gerade tragen kann, und solche, die in eine Hand passen.«
Ich habe den Satz gerade zu Ende gesprochen, da fällt mir auf, dass das bisschen Erinnerung in mir, das ich zu fassen bekommen habe, sich langsam zu entwirren beginnt. Oder dass sich die Dinge vielleicht allmählich zum Guten wenden.
»Vielleicht gibt es so was ja im Archiv der Bibliothek, ganz hinten im Gebäude. ›Archiv‹ ist zu viel gesagt, heute ist es eigentlich nur noch ein Zimmer, voll gestopft mit altem Plunder. Ich weiß selbst nicht, was da alles steht, mehr als einen flüchtigen Blick hab ich noch nicht reingeworfen. Wollen wir uns da mal umsehen?«
»Ja, gut«, sage ich. »Heute schaffe ich sowieso keinen Traum mehr.«
Wir durchqueren das große Magazin mit den Regalen voller Schädel, gehen über einen mir unbekannten Flur bis zu einer Milchglastür, ähnlich der am Eingang der Bibliothek. Auf dem Messingknauf liegt eine dünne Staubschicht; die Tür ist nicht verschlossen. Die Bibliothekarin schaltet das Licht ein. Gelb und staubig erhellt es einen langen, schmalen Raum, in dem sich eine Unmenge Zeug stapelt, das seine Schatten an die weißen Wände wirft.
Das meiste davon sind Koffer und Taschen. Hier und da ist auch ein Schreibmaschinenkoffer oder ein Tennisschläger mit Hülle zu sehen, aber das sind Ausnahmen; den überwiegenden Teil des Raumes nehmen Koffer und Taschen aller möglichen Größen ein. Es sind wohl um die hundert, und alle sind mit einer schon fatal zu nennenden Staubmenge bedeckt. Aus welchen Breitengraden sie hier gelandet sind, ist nicht auszumachen, wohl aber, dass es einige Zeit und Mühe kosten wird, sie alle aufzumachen.
Ich hocke mich hin und hebe fürs Erste den Deckel eines Schreibmaschinenkoffers an. Lawinen weißen Staubes lösen sich und wirbeln auf wie Schneegestöber. Darunter kommt eine Schreibmaschine altmodischen Typs, noch mit den großen, runden Tasten einer Registrierkasse, zum Vorschein. Sie scheint lange benutzt worden zu sein, denn der schwarze Lack ist an vielen Stellen abgesprungen.
»Weißt du, was das ist?«
»Nein«, sagt sie, tritt neben mich und verschränkt die Arme. »So was hab ich noch nie gesehen. Ist das ein Instrument?«
»Nein, das ist eine Schreibmaschine. Man druckt Buchstaben damit. Die hier ist sehr alt.«
Ich mache den Deckel wieder zu, stelle die Schreibmaschine an ihren Platz zurück und wende mich als Nächstes dem danebenstehenden Rattankorb zu. Darin findet sich ein Picknickset. Ordentlich festgebundene Gedecke aus Messern, Gabeln, Tellern und Tassen, mit vergilbten, ehemals wohl weißen Servietten. Ebenfalls ein Relikt vergangener Tage. Heute, nachdem Aluminiumteller und Pappbecher Einzug gehalten haben, schleppt niemand mehr so ein Zeug mit sich herum.
In einer großen Reisetasche aus Schweinsleder sind hauptsächlich Kleidungsstücke. Anzüge, Hemden, Krawatten, Socken, Unterwäsche – das meiste von Motten zerfressen und kaum mehr erkennbar. Dazwischen liegen eine Toilettentasche und ein Flachmann. Die Borsten sowohl der Zahnbürste als auch des Rasierpinsels sind ganz hart und steif geworden, und aus dem Flachmann dringt nicht der leiseste Hauch von Alkohol mehr, als ich den Verschluss abschraube und daran rieche. Sonst ist in der Tasche nichts. Weder ein Buch noch ein Notizblock, auch kein Taschenkalender.
Ich öffne noch ein paar andere Koffer und Reisetaschen, aber die Inhalte unterscheiden sich kaum voneinander. Kleidung und das Allernötigste an Kleinkram – alles sieht aus wie lieblos und in großer Hast zusammengepackt. Den Gepäckstücken fehlt dieses gewisse persönliche Etwas, das Menschen normalerweise mit auf die Reise nehmen, und gerade das vermittelt dem Betrachter den Eindruck von Unnatürlichkeit. Kein Mensch verlässt doch sein Heim nur mit ein paar Kleidungsstücken und Toilettenartikeln im Gepäck! Wie dem auch sei, ich vermag in den Taschen jedenfalls keinen einzigen Hinweis auf Persönlichkeit oder Leben der Besitzer zu entdecken.
Die Kleidung ist bestenfalls als herkömmlich zu bezeichnen. Weder
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