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Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt

Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt

Titel: Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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so sicher, man muss …«
    »Nein, nicht deshalb. Natürlich wäre das eine gute Sache. Aber das meinte ich nicht. Ich bin nur sehr glücklich, noch einmal mit dir gesprochen zu haben. Deine Stimme gehört zu haben, zu wissen, was du machst.«
    »Möchtest du weitersprechen?«
    »Nein, es reicht. Ich hab auch nicht mehr allzu viel Zeit.«
    »Du«, sagte das dicke Mädchen. »Hab keine Angst! Wenn du wirklich auf ewig verloren sein solltest, ich denke an dich, mein Leben lang. In meinem Herzen gehst du nicht verloren. Vergiss das bitte nicht!«
    »Ich vergesse es nicht«, sagte ich. Dann legte ich auf.
    Um elf Uhr suchte ich die nächste Toilette auf, pinkelte und verließ dann den Park. Ich startete den Wagen und fuhr Richtung Hafen, im Kopf allerlei Gedanken übers Eingefrorenwerden. Auf der Ginza wimmelte es von Herren in Schlips und Kragen. An einer Ampel hielt ich Ausschau nach der Bibliothekarin, die dort irgendwo zum Einkaufen unterwegs sein musste, doch ich konnte sie leider nicht entdecken. Ich sah nur unbekannte Gesichter.
    Am Hafen parkte ich neben einem verlassenen Speicherhaus, zündete mir eine Zigarette an und legte Bob Dylan ein. Ich klappte die Rücklehne des Sitzes nach hinten, legte die Füße aufs Steuer und atmete ruhig ein und aus. Ich hätte gerne noch ein Bier getrunken, doch ich hatte keins mehr. Die Bibliothekarin und ich hatten im Park alle sechs Dosen geleert. Die Sonne schien durch die Windschutzscheibe und tauchte mich in ihr Licht. Wenn ich die Augen schloss, spürte ich, wie sie mir die Lider wärmte. Bei dem Gedanken, dass das Sonnenlicht eine lange Strecke bis zu diesem kleinen Planeten zurückzulegen hatte und dann ein Stückchen seiner Kraft darauf verwandte, mir die Lider zu wärmen, überkam mich eine merkwürdige Rührung. Im Kosmos war an alles gedacht, selbst an eine Winzigkeit wie meine Augenlider. Ich glaubte, Aljoscha Karamasow nun ein wenig verstehen zu können. Begrenztem Leben wird begrenzte Lobpreisung zuteil.
    Bei der Gelegenheit pries und segnete ich gleich den Professor, seine dicke Enkelin und die Bibliothekarin. Ob ich das Recht dazu hatte, wusste ich nicht, doch schließlich war nicht zu befürchten, dass mich jemand zur Rechenschaft ziehen würde: Ich stand kurz vor dem Erlöschen. Den Police- und Reggae-Taxifahrer nahm ich auch mit auf die Segensliste: Er hatte uns verdreckte Gestalten mitgenommen. Ihn nicht zu segnen bestand kein Grund. Wahrscheinlich drehte er gerade irgendwo seine Runden, Rockmusik hörend, auf der Suche nach jungen Fahrgästen.
    Vor mir lag das Meer. Ich sah einen alten Frachter, dessen Ladung gelöscht war, die Wasserlinie deutlich gehoben. Hier und da Möwen, wie weiße Flecken. Bob Dylan sang Blowin’ in the Wind. Ich hörte ihm zu und dachte an die Schnecke, den Nagelknipser, den Stint, die Buttersauce, den Rasierschaum. Offenbarungen zeigen sich in vielfältiger Gestalt.
    Auf dem Meer glitzerte und schaukelte das frühherbstliche Sonnenlicht, als hätte jemand einen riesigen Spiegel zerschlagen. In kleine und kleinste Stücke, sodass niemand ihn mehr würde zusammensetzen können. Kein König und keine Armee.
    Bob Dylans Stimme erinnerte mich unwillkürlich an die junge Frau vom Autoverleih. Richtig, auch sie gehörte auf meine Segensliste. Sie hatte einen sehr netten Eindruck gemacht. Ich durfte sie auf keinen Fall auslassen.
    Ich rief mir in Erinnerung, wie sie ausgesehen hatte. Sie hatte einen Blazer getragen, blassgrün wie der Rasen im Baseballstadion zu Beginn der Saison, eine weiße Bluse und ein schwarzes Halstuch. Wahrscheinlich die Uniform des Autoverleihs. Sonst würde wohl kaum jemand zu einem grünen Blazer ein schwarzes Halstuch tragen. Sie hörte alte Dylan-Songs und dachte dabei an Regen.
    Ich malte mir ebenfalls Regen aus. Er war so fein, dass man nicht wusste, ob es regnete oder nicht. Doch es war Regen. Er fiel auf Schnecken, auf Hecken, auf Kühe. Niemand konnte ihn stoppen. Niemand konnte sich ihm entziehen. Regen fällt immer gerecht.
    Schließlich legte sich der Regen als verschwommener, undurchsichtiger Vorhang auf mein Bewusstsein.
    Der Schlaf kam.
    Nun bekomme ich zurück, was ich verloren habe, dachte ich. Ich hatte es verloren, doch verloren war es nie. Ich schloss die Augen und überließ mich dem tiefen Schlaf. Bob Dylan sang A Hard Rain’s A-Gonna Fall.

40  DAS ENDE DER WELT
DER VOGEL
    Als wir am See im Süden ankommen, fällt so dichter Schnee, dass es mir den Atem raubt. Es sieht aus, als wäre der

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