Harmlose Hölle - Raum 213 ; Bd. 1
hatte ihren Laptop beschlagnahmt, aber es war ihr egal gewesen, wie eigentlich alles egal war.
Die Frau mit dem roten Kapuzenpulli, Madella da Silva vom Sheriffs Office, hatte ihnen noch ihre Visitenkarte gegeben, ehe sie als Letzte gegangen war.
»Draußen vor der Tür wird in der Nacht ein Streifenwagen patrouillieren«, hatte sie gesagt. »Morgen wissen wir mehr.« Sie sah erst Liv an, dann Jessie. »Wir sprechen auf dem Revier weiter.« Sie hatte gezögert. »Wollt ihr wirklich nicht, dass eure Nachbarin hier übernachtet?«
Liv schüttelte nur stumm den Kopf.
»Wir kommen schon klar«, sagte Jessie gepresst. »Machen Sie sich keine Sorgen.«
Sie nickte noch einmal, dann verschwand sie im Flur. Die Tür fiel ins Schloss, schließlich herrschte Stille.
Liv sah sich in der Küche um, die merkwürdig verwüstet aussah. Dabei standen nur ein paar benutzte Gläser auf dem Küchentisch und eine angebrochene Packung Kekse.
Für einen Moment hatte sie keine Ahnung, was sie jetzt machen sollte. Vermutlich schlafen gehen. Aber sie konnte sich nicht vorstellen, dass sie sich nach alldem einfach hinlegen und die Augen zumachen konnte.
Die Augen des Mädchens waren weit aufgerissen gewesen. Sie würde sie nicht mehr schließen können. Nicht aus eigener Kraft.
Livs Blick wanderte ganz automatisch wieder zum Fenster. Jessie lehnte schweigend an der Spüle. Der letzte Polizeiwagen setzte die regennasse Einfahrt hinunter, während noch immer das grelle Licht des Scheinwerfers im Garten seinen harten Schatten auf den Rasen warf.
»Irgendjemand sollte das ausmachen«, sagte Liv unwillig. Doch im nächsten Moment spürte sie, wie etwas durch sie hindurchjagte, ein schnelles Stechen von Kopf bis Fuß, Adrenalin, das durch ihre Adern schoss.
Im Fenster war für den Bruchteil einer Sekunde ein Gesicht zu sehen gewesen. Die Züge waren undeutlich, der Mund merkwürdig aufgerissen, die Augen unnatürlich weit.
Es verschwand sofort, aber Liv kannte das Gesicht.
Es gehörte zu diesem Albtraum.
Es gehörte Ethan Hobbs.
7
»Und ich sage dir, das war Ethan am Fenster. Da kannst du behaupten, was du willst.« Liv saß unter einer dicken Wolldecke auf dem breiten Sofa im Wohnzimmer. Jessie hatte das Holz im Kamin angezündet, aber trotzdem war Liv noch immer kalt. Der Sturm piff durch den Kamin, das Feuer flackerte hell auf.
Ihr Bruder hockte vor ihr. »Liv, was auch immer du gesehen hast, du musst das jetzt vergessen und etwas schlafen, hörst du? Du stehst unter Schock. Wir beide tun das.« In seinem zerknitterten Hemd sah Jessie völlig fertig aus. »Draußen hält die Polizei Wache, die ganze Nacht. Hier kann dir nichts passieren.«
Nachdem sie das Gesicht am Fenster gesehen hatte, hatte Liv ihm erzählt, was in der vorherigen Nacht passiert war. Es war nur so aus ihr herausgesprudelt, so als hätte der Anblick etwas in ihr gelöst. Ihr Bruder hatte nicht viel dazu gesagt, sondern sie nur ungläubig angesehen, und seine Miene unter den zerzausten Locken war immer dunkler und undurchdringlicher geworden. Schließlich hatte er sich wortlos erhoben und die Polizei noch einmal angerufen.
Liv wusste nicht, was er mit der Polizistin besprochen hatte, das Gespräch war einseitig verlaufen, nachdem Jessie berichtet hatte, was Liv passiert war. Sie würde morgen aufs Revier müssen und dort eine offizielle Aussage machen, aber jetzt sollte sie erst einmal versuchen zu schlafen.
Das klang einfach, aber nichts erschien Liv gerade schwerer. Es war wie eine unlösbare Aufgabe, die vor ihr lag, unüberwindbar.
Noch immer sah sie ihn vor sich, seine dunkle Gestalt war auf ihrer Netzhaut wie eingebrannt. Ethan, der sie gestern Nacht überfallen und ihr heute in der Cafeteria aufgelauert hatte, nur um dann plötzlich zu verschwinden. Er hatte sie warnen wollen, doch er hatte nicht gesagt, wovor. Und jetzt passierte ein Mord in ihrem Vorgarten und Ethans Gesicht erschien wenig später an ihrem Fenster. Sie hatte die aufgerissenen Augen genau gesehen, so sehr konnte sie sich doch nicht irren. Oder?
Plötzlich war sie sich nicht mehr sicher, ob sich ihr überreiztes Hirn alles nur eingebildet hatte. Vielleicht verknüpfte es die Ereignisse von heute mit dem Überfall von gestern?
Ein Heulen erklang von draußen, der Sturm schien stärker zu werden. Sie zog die Decke bis zu den Schultern hoch und dachte an das tote Mädchen. Sie hatte vielleicht gestern Abend auf einem ähnlichen Sofa wie diesem gesessen. Hatte einen Film gesehen, mit
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