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Harmlose Hölle - Raum 213 ; Bd. 1

Harmlose Hölle - Raum 213 ; Bd. 1

Titel: Harmlose Hölle - Raum 213 ; Bd. 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Loewe
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nein.«
    Er hat einen Schock. Er hat einen Schock wie ich , dachte Liv und machte sich klein auf ihrem Stuhl. Wenn ich mich immer kleiner mache, dann verschwinde ich vielleicht . Dann kann ich mich wegbeamen. Dann wird alles wieder gut.
    Und das Zittern – dieses grässliche Zittern würde dann auch aufhören.
    »Wir brauchen mehr Scheinwerfer.«
    Wer hatte das gesagt? Ach ja, die Polizisten.
    Mühsam hob sie den Kopf und sah aus dem Fenster auf den Rasen, wo die Mitglieder der Spurensicherung im Schein eines einzelnen Scheinwerfers arbeiteten. Der Sturm zerrte an ihren grauen Schutzanzügen und die Leuchte mit den ausklappbaren Stelzenfüßen verlieh dem Ganzen etwas von einem Filmset, aber das war es ja nicht.
    Es war ein Tatort. Das war jetzt nicht mehr der Ahornbaum aus Livs Kindheit, es war ein Tatort.
    Daniel , dachte sie. Daniel, komm und hol mich hier weg. Mach, dass das alles ein Albtraum ist. Weck mich auf.
    Eine dunkelhaarige Frau in Jeans und einem Kapuzenpullover kam auf sie zu. Ihr Pullover war rot, so rot wie der Pullover des Mädchens im Baum. Liv starrte sie an und spürte einen bitteren Geschmack in der Kehle. Sie schluckte und schluckte, vergeblich.
    Mit einem Satz sprang sie auf, sah die erschrockenen Gesichter der Polizisten, aber sie achtete nicht darauf. Sie rannte aus der Küche hinüber ins Bad und schaffte es gerade noch bis zur Kloschüssel, bevor sie sich übergeben musste, bevor sie alles aus sich herauswürgte, das Entsetzen, die Angst, die Hilflosigkeit.
    Liv wusste nicht, wie lange sie vor der Kloschüssel kniete, es kam ihr vor wie eine Ewigkeit. Immer wieder stieg ihr die bittere Galle hoch, aber irgendwann schaffte sie es, sie wieder hinunterzuschlucken.
    Erschöpft lehnte sie sich an die Wand. Sie war schweißgebadet, aber trotzdem war ihr eiskalt.
    Dann fühlte sie eine Hand auf ihrem Arm. Stunden später? Minuten später? Sie wusste es nicht.
    »Liv, alles okay?«
    Müde sah sie auf. Jessie. Das war Jessie. Ihr großer Bruder. Was meinte er damit, ob alles okay war? War es okay, dass sie eine Leiche in ihrem Vorgarten gefunden hatte? War es okay, dass sie all das viele Blut gesehen hatte? War es okay, dass sie da draußen gestanden hatte, vor dem Ahornbaum, und geschrien und geschrien hatte, bis endlich ihre Nachbarin Deborah über den Rasen gerannt gekommen war und sie weggezerrt hatte? War es okay, dass sie über zehn Minuten auf den ersten Streifenwagen hatten warten müssen? Und jetzt waren all diese Polizisten in ihrem Haus und stellten Scheinwerfer in ihrem Garten auf, um ein totes Mädchen in gleißendem Licht zu baden. War das okay?
    Sie spürte, wie die Übelkeit zurückkam. Sie keuchte auf, beugte sich wieder über die Kloschüssel, aber es kam nichts, sosehr sie auch würgte.
    Jessie streichelte ihr die Schulter. »Liv, Mom und Dad kommen nach Hause«, erklärte er hilflos. »Sie versuchen, den nächsten Flug zu nehmen.«
    Liv gab keine Antwort. Sie hatte das Gefühl, dass sie nicht mehr sprechen konnte. Es gab keine Worte für diesen Albtraum, jedenfalls keine, die ihr eingefallen wären.
    Sie erhob sich langsam, ganz langsam. So musste man sich fühlen, wenn man furchtbar alt war. Sie schüttelte Jessies Hand ab, lief durch die Küche, achtete nicht auf die Frau im roten Kapuzenpulli, die ihr in den Weg trat. Sie hielt erst an, als sie am Fenster war. Draußen wurde gerade eine Trage in den dunkelgrauen Van geschoben, der hinter den vielen Polizeiwagen in der Einfahrt parkte.
    Unter dem schwarzen Tuch lag nun das tote Mädchen. Weiß wie Schnee, rot wie Blut, genauso hatte sie ausgesehen. Mit ihren feinen Zügen, der blassen, durchscheinenden Haut. Nur das kurz geschnittene blonde Haar passte nicht.
    Liv dachte an das viele Blut. Und dann kamen die Gefühle wieder und überwältigten sie. Ihre Kehle wurde eng und sie versuchte, Luft zu holen, aber es gelang ihr nicht.
    Plötzlich spürte sie, wie sie jemand von hinten in den Arm nahm. »Ich bin hier, Liv«, sagte Jessie und drückte sie. »Ich bin da, okay? Es tut mir so leid. Es tut mir so leid, dass du das mitansehen musstest. Es tut mir wirklich leid!«
    Und da erst, in diesem Moment, fing Liv an zu weinen.
    Liv wusste nicht, wie spät es war, als die Polizei endlich gegangen war. Die letzten Stunden hatte sie wie in Trance erlebt. Die Polizei hatte ihr Fragen gestellt und sie hatte ganz automatisch geantwortet, hatte erzählt, wie sie die Leiche entdeckt hatte, hatte sich sogar an die Mail erinnert. Die Polizei

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