Harmlose Hölle - Raum 213 ; Bd. 1
auf gleich? Liv rieb sich die brennenden Augen und versuchte, sich zu konzentrieren. Sie durfte nicht mehr an ihn denken, sonst würde sie noch krank werden.
Die Mail an ihre Eltern! Sie klappte den Laptop auf und öffnete ihren Facebook-Account. Mai hatte sich gemeldet: Ihre Mutter, eine Facebook-Hasserin der allerersten Generation, hatte mal wieder gedroht, ihren Zugang zu sperren. Sie fragte, ob Liv schon bei der Polizei gewesen war. Sie wollte gerade antworten, als der Laptop sie mit einem leisen Ton auf eine neue Mail hinwies. Liv klickte sich in ihren Posteingang und seufzte. Gott, das war bestimmt ein Scherz von einem der Schulhirnis: Lindy Acosta – die Direktorin der Eerie High – hatte angeblich geschrieben.
Sie öffnete die Mail. Es waren nur wenige Zeilen, aber es war ganz und gar nicht das, was Liv erwartet hatte.
Sofort war die Melodie in ihrem Kopf. Die Worte dazu schienen keinen Zusammenhang zu ergeben, sperrten sich, von Livs Verstand zusammengesetzt und eingeordnet zu werden.
Wieder und wieder glitt ihr Blick über die schwarzen Buchstaben, die wie fette Kleckse auf dem Bildschirm klebten und umso mehr ineinander verschwammen, je heftiger Liv sie fixierte.
Ring around the treehouse
Pockets full of blind Mouse
Livvie, Jessie!
We all fall down.
Ringelringelreihen. Ihre ganz eigene Version, die Dad für sie und Jessie gedichtet hatte.
Sie sah sich und Jessie, wie sie um das Baumhaus herumgerannt waren, das Lied gesungen, nein, gekreischt hatten, bis sie erschöpft ins Gras gefallen waren. Jessie, der ihr kalte Spaghetti in den Nacken gestopft hatte, und sie geglaubt hatte, das wären nackte Mäuseschwänze. Ihre Mutter, die darüber so lachen musste, dass sie einen halben Erstickungsanfall bekam.
Livs Blick ging ganz automatisch zum Fenster. Sie hatte die Vorhänge nicht zugezogen. Dort zwischen dem Haus und der Auffahrt, direkt vor ihrem Fenster, stand im Vorgarten noch immer der alte Ahornbaum, dessen mächtige Äste sich trotz des starken Windes kaum bewegten. Das Baumhaus war mittlerweile verrottet, aber Liv konnte vor ihrem Fenster das alte Dach aus grüner Wellpappe erkennen und die schiefen Bretter, die ihr Vater, der handwerklich eine Niete war, fluchend zusammengenagelt hatte.
Und noch etwas konnte sie erkennen.
Ein bitterer Geschmack stieg in ihrer Kehle hoch. Es war zu trüb und zu dunkel draußen, um genug zu sehen, aber da war etwas im Baumhaus, was nicht hingehörte, ein Schatten, groß genug, um ein Mensch sein zu können. Und im gleichen Moment wurde ihr klar, dass ihr Zimmer hell erleuchtet war und sie jeder von außen beobachten konnte.
Ein Scheinwerfer blitzte auf, ein Auto auf der Straße passierte die Einfahrt. Das Licht streifte den Baum. Im Bruchteil einer Sekunde flammte ein Bild auf, das Liv noch auf der Netzhaut brannte, als das Auto längst verschwunden war und Liv schon nach unten raste.
Vage bekam sie mit, dass irgendjemand im Haus gellend schrie, so schrill, dass es in ihren Ohren klingelte. Sie begriff erst im Erdgeschoss, dass die Schreie von ihr selbst kamen.
Und noch immer konnte sie nicht aufhören, schrie und rannte weiter, schob Jessie aus dem Weg, der plötzlich leichenblass in seiner Jacke im Flur vor ihr auftauchte, war schon bei der Vordertür.
Ein tiefes Schluchzen saß in ihrer Kehle. Sie riss die Haustür auf, stolperte fast über die Stufen, egal, los, los, los!
Wie eine Verrückte rannte sie über den Rasen, der feucht vom Regen war, und das Schluchzen in ihrer Kehle wurde heiser, als sie den Ahornbaum erreicht hatte und nach oben schaute.
Und obwohl sie so schnell handelte wie noch nie zuvor in ihrem Leben, wusste sie die ganze Zeit, dass sie zu spät kommen würde.
Ihr Herz raste, vor ihren Augen flimmerte es, aber trotzdem sah sie hin, sie konnte nicht anders.
Es war ein Mensch, der da im Baumhaus saß, da hatte sie der erste Eindruck nicht getäuscht. Aber es war nicht ihr Angreifer von gestern Nacht, wie Liv für einen winzigen Moment geglaubt hatte. Es war nicht Ethan.
Das Mädchen, das da oben gegen die morschen Überreste des Baumhauses lehnte, hatte eine zierliche, fast kindliche Figur, obwohl sie älter als Liv sein musste. Ihre Züge waren zart, die Lippen von einem leichten Rosa. Die Augen waren weit geöffnet und starrten Liv direkt an.
Liv spürte, wie sich ihr Magen hob. Sie schwankte, aber sie zwang sich, auf die Brust des Mädchens zu schauen – auf das, was sie im Scheinwerferlicht aus ihrem Zimmer erkannt
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