Harmlose Hölle - Raum 213 ; Bd. 1
ihrem Freund telefoniert, ein Buch gelesen, was auch immer. Und heute – heute war sie nicht mehr am Leben.
Und Liv selbst? Noch vor einer Woche hätte sie sich niemals vorgestellt, dass irgendetwas ihr total normales Leben so auf den Kopf stellen konnte. Sie war glücklich mit Daniel gewesen. Aber dann hatte Daniel eine andere geküsst und alles hatte sich geändert. Und obwohl das so war, obwohl er sie verraten hatte, wünschte sie ihn sich doch her. Sie sehnte sich danach, dass er sie in die Arme nahm und ihr zuflüsterte, dass alles gut werden würde. Eine einzelne Träne rollte über ihre Wange.
»Hast du die Tablette genommen?«, fragte Jessie.
Liv nickte. »Schon vor einer halben Stunde«, sagte sie. »Aber sie wirkt nicht.«
»Das wird sie schon noch.« Die steile Stirnfalte in Jessies Gesicht wollte nicht verschwinden. »Hör zu, ich muss noch mal telefonieren. Ich bin drüben in der Küche, okay?«
»Können wir heute hier unten schlafen?«, fragte Liv und hoffte, dass ihre Stimme nicht zu kläglich klang. »Ich meine … kannst du auch auf dem Sofa schlafen?«
Jessie warf ihr einen undurchdringlichen Blick zu, aber dann wurde sein Gesicht weich. »Wenn es dir hilft?«
»Ja, das hilft«, sagte Liv nur.
Er lächelte müde, dann verschwand er in der Küche.
Liv starrte in die Flammen und im selben Moment spürte sie die Erschöpfung, die sie von jetzt auf gleich überfiel. Sie merkte noch, wie ihr Verstand sich gegen die Müdigkeit wehrte, als ob er nicht zulassen wollte, dass sie einschlief. Aber gegen das Medikament, das ihr ein Sanitäter gegeben hatte, konnte er nicht ankämpfen.
Vage bekam sie mit, wie irgendwo ein Telefon klingelte. War das Daniel? Ihr Freund? Nein, dachte sie angestrengt, das stimmt ja gar nicht, Daniel ist nicht mehr mein Freund. Freunde küssen keine anderen, oder?
Ihre Gedanken drehten sich und drehten sich weiter, während Jessies Stimme schroffer wurde.
»Nein, Summer, vergiss es«, hörte sie ihren Bruder sagen.
Liv dachte an Summer, Jessies neue Freundin. Sie war so überdreht. Überaus hipp, überaus schlank, aber nicht wirklich schlau.
Das Mädchen in ihrem Garten war auch schlank gewesen.
Schlank wie Mai, ihre beste Freundin. Was sie wohl dazu sagen würde? Sie musste ihr alles erzählen. Mai würde die richtigen Worte finden und sie würde sich besser fühlen. Garantiert. Liv hörte noch von irgendwoher eine Tür ins Schloss krachen, dann fielen ihr endgültig die Augen zu.
Es war fast fünf Uhr, als sie aus einem traumlosen Schlaf hochschreckte. Als Erstes schaute sie auf das hell erleuchtete Display ihres Handys.
Sie hatte keine Ahnung, was sie geweckt hatte, aber es war etwas, das ihr Herz rasen ließ und ihren Adrenalinspiegel in die Höhe trieb.
Im Zimmer war es dunkel, das Feuer war bis auf die Glut ausgegangen. Auf dem gegenüberliegenden Sofa lag eine zurückgeschlagene Decke und ein zerknautschtes Kopfkissen, von Jessie war keine Spur zu entdecken.
Der Sturm draußen hatte noch mehr zugenommen, der Wind drückte gegen die Scheiben und immer wieder schlug ein Zweig gegen das Fenster, ein rhythmisches Tock-tock-tock, das Liv einen Schauer über den Rücken jagte.
Der Ahornbaum. Das tote Mädchen. Das viele Blut. Alles stand ihr wieder klar vor Augen.
»Jessie?« Sie hörte selbst, wie kläglich ihre Stimme klang, und fühlte sich wie eine Vierjährige, die schlecht geschlafen hat und nun nach ihrer Mom verlangt. Was würde sie darum geben, wenn ihre Eltern jetzt zu Hause wären.
Liv schlug die Decke zurück und rappelte sich auf. Sie konnte das hier tun. Aufstehen, Licht anmachen, in die Küche gehen, vermutlich hatte sich Jessie einen Kakao gemacht, weil er nicht schlafen konnte.
»Jessie, verdammt, wo bist du?« Ihre Stimme klang jetzt schon ein bisschen mehr nach ihr selbst. Okay. Gut.
Sie tastete nach dem Lichtschalter und atmete auf, als die Deckenfluter aufleuchteten. Noch besser.
Sie ging in die Küche. Dort standen noch immer die Gläser von gestern Abend herum.
Kein Jessie weit und breit.
Livs mulmiges Gefühl in der Magengrube verstärkte sich, obwohl sie sich sagte, dass alles in Ordnung war. Bestimmt war er in sein Bett gegangen, weil er auf dem schmalen Sofa nicht schlafen konnte. Jessie war da empfindlich.
Sie zögerte, dann warf sie einen Blick auf die Haustür, neben der das rote Licht der Alarmanlage beruhigend leuchtete.
Mit ein paar schnellen Schritten war sie im ersten Stock. Die Tür von Jessies Zimmer stand weit
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