Harmlose Hölle - Raum 213 ; Bd. 1
hatte.
Das Mädchen trug einen hautengen Pullover, der einmal weiß gewesen war. Jetzt hatte sich ein riesiger Blutfleck auf der Brust ausgebreitet bis hinunter zum Bauch. Und der Ausdruck in den Augen des Mädchens war so kalt und leer, dass es keinen Zweifel gab.
Sie war tot und nichts, gar nichts, würde sie zurück ins Leben bringen.
Zwei Jahre zuvor, Raum 213
Ethan wusste nicht genau, wann die Musik eingesetzt hatte. Er war zu beschäftigt gewesen, einen Weg aus dem Zimmer zu finden und die Panikattacken in den Griff zu kriegen, die ihn in Wellen überfluteten, während sein Verstand versuchte, die Oberhand zu behalten. Es musste eine rationale Erklärung dafür geben, dass Raum 213 kein Schlüsselloch mehr hatte. Denn sonst würde das bedeuten, dass er verrückt wurde. Dass mit ihm etwas nicht stimmte.
Er hatte alles versucht, um die Tür zu öffnen, hatte sogar seinen Haustürschlüssel in die Ritze zwischen Holz und Rahmen geklemmt, um gleich darauf einzusehen, wie idiotisch dieser Einfall war. Natürlich würde er so die Tür nicht aufbekommen.
Irgendwann hatte er sich zu den Fenstern umgedreht. Sie mussten schallgedämpft sein, das war die einzige Erklärung für die Totenstille in diesem Zimmer. Unten auf dem Campus waren immer noch jede Menge Schüler unterwegs. Von hier oben sahen sie winzig aus. Ethan hatte versucht, die Fenster zu öffnen, um die Leute durch Rufe aufmerksam zu machen, aber sosehr er an den Griffen rüttelte, sie ließen sich nicht öffnen. Auch sein Handy half nicht weiter, er hatte keinen Empfang. Er probierte es trotzdem noch einmal und da hörte er die Musik.
Erst war sie so leise, dass er dachte, sein Gehör spielte ihm einen Streich, doch einen Moment später wurde sie lauter.
Ethan sah unwillkürlich zur Tür. In jedem Klassenzimmer der Eerie High war ein Lautsprecher direkt über der Tür angebracht, aber hier fehlte er. Und die Musik schien auch nicht von dort zu kommen. Nein, sie kam von weiter links. Dort hinten aus der Ecke? Nein, da drüben von der Tafel. Oder?
Ethan drehte sich einmal um die eigene Achse. Er konnte die Geräuschquelle nicht ausmachen. Noch einmal drehte er sich.
Die Melodie wurde lauter und plötzlich begriff Ethan.
Die Töne drangen aus dem Handy, das er noch immer in seiner Hand hielt. Der verdammte Song drang aus dem Lautsprecher seines eigenen Handys!
Ethan fuhr mit dem Finger über den dunklen Touchscreen, aber nichts passierte. Es war, als ob das Handy keinen Strom mehr hätte oder ganz ausgeschaltet wäre. Dabei drang die Musik doch laut und vernehmlich aus dem Lautsprecher.
Ethan schloss die Augen. Hate me … Er kannte den Song von Blue October in- und auswendig, es war ihr Song gewesen, Rachels und seiner.
Und dann war da das helle Lachen, das sich über die Musik legte, leise nur, aber trotzdem ganz deutlich das Lachen eines Mädchens, das ihm durch Mark und Bein ging.
Ethans Blick raste durch den Raum, auf der Suche nach etwas, das ihn hier herausbringen würde, bloß raus hier, durchatmen, Stille in seinen Verstand bringen. Sein Blick blieb an der Tafel hängen, die nur nachlässig gewischt war, man sah noch vereinzelte Kreidelinien, die zusammen mit den Schwammspuren ein bizarres Muster auf der schwarzen Oberfläche bildeten. Bizarr?
Das, was Ethan für nachlässig weggewischte Spuren gehalten hatte, war in Wirklichkeit – ein Gesicht. Die vertrauten Züge von Rachel, die er überall erkannt hätte.
Und im Licht der späten Nachmittagssonne erschienen sie plötzlich blutrot.
Hate me.
6
»Sie hieß Rachel. Rachel Brokkolone.«
Liv hörte die Stimmen der Polizeibeamten wie durch dichten Nebel. Mehrere Messerstiche. Hohes Tempo. Massive Gewalt.
Die Worte verstand sie, aber es kam ihr so vor, als ob sie nicht wirklich in einem Zusammenhang stünden. Daran war das Zittern schuld, das, da war sie überzeugt, nie wieder aufhören würde. Oder vielleicht war ihr Körper, der so hörbar mit den Zähnen klapperte, gar kein Teil mehr von ihr? Vielleicht saß sie selbst noch oben in ihrem Zimmer vor dem Computer und all das hier war nicht passiert?
Andererseits, dachte sie angestrengt, müsste ich dann eine logische Erklärung dafür finden, dass unsere ganze Küche voller Leute ist.
Nein, nicht voller Leute. Voller Polizisten.
Ihr Blick schwenkte zu Jessie hinüber. Er war gerade am Telefon, sprach mit ihren Eltern. Er trug noch immer seine Jacke. Sein Blick war abwesend, er gab nur monotone Antworten. »Nein, ja, ja,
Weitere Kostenlose Bücher