Harmlose Hölle - Raum 213 ; Bd. 1
ihren Bruder am Hemd. »Ich bin hier gestorben vor Angst, du Scheißkerl!« Sie trommelte mit beiden Fäusten auf seine Brust. »Wie konntest du mich allein lassen? Wie konntest du nur?«
»Hey, Liv!« Jessie packte ihre Hände und hielt sie fest. Sie war überrascht, wie hart er zupackte. »Wovon sprichst du? Was ziehst du hier für eine Show ab?«
»Wovon ich spreche?« Ihre Stimme drohte zu kippen. »Ich spreche davon, dass du mich mitten in der Nacht allein gelassen hast, nachdem ein Mädchen in unserem Vorgarten ermordet worden ist! Davon spreche ich.«
»Allein gelassen?« Verwirrung spiegelte sich auf Jessies Gesicht. »Was meinst du damit?«
»Wo warst du?«
»Na, im Wohnzimmer.« Jessie schüttelte den Kopf. »Wo sonst?«
»Aber ich bin aufgewacht, um fünf, und du warst nicht da! Ich hab dich im ganzen Haus gesucht und du warst nirgends, und ganz bestimmt nicht auf dem Sofa, und dann hat das Telefon angefangen zu klingeln und es war Ethan und ich glaube, er verfolgt mich und er hat bestimmt das Mädchen umgebracht und …«
Wieder kamen ihr die Tränen.
»Hey, Liv, beruhige dich, ja?« Jessie ließ sie los. »Ich war die ganze Zeit da. Ich habe auf dem Sofa geschlafen. Das Telefon hat bestimmt nicht geklingelt, das hätte ich gehört. Du hast geträumt. Du hast geschrien!«
»Und wie komme ich dann hierher?«
Jessie hob die Schultern. »Keine Ahnung.« Er sah sie besorgt an. »Aber das gestern war ziemlich viel für dich, oder?«
»Ich glaub dir kein Wort. Du warst weg! Und Ethan hat angerufen.« Liv schluchzte auf.
Jessie runzelte die Stirn. »Was hat er denn gesagt?«, fragte er und seine Stimme klang plötzlich ganz heiser.
Für einen Moment war Liv nicht ganz klar, was ihr Bruder meinte. Dann schüttelte sie wieder den Kopf. »Keine Ahnung«, sagte sie kleinlaut. »Ich bin nicht rangegangen.« Sie machte eine winzige Pause. »Ja, ich weiß, dass du mich jetzt für verrückt erklären wirst«, fuhr sie dann fort. »Aber er war es trotzdem. Wirklich.«
»Um wie viel Uhr bist du aufgewacht?«, fragte Jessie ruhig.
»Um fünf. Ich hab auf mein Handy gesehen, es war fünf, ganz bestimmt. Ich hab dich ewig gesucht. Dann hat das Telefon geklingelt und ich hatte Panik. Irgendwann muss ich dann hier eingeschlafen sein.«
»Da hast du deinen Beweis«, sagte Jessie.
»Was meinst du?« Sie sah ihn verwirrt an.
Er deutete stumm auf seine Armbanduhr. »Es ist gerade mal zehn vor fünf, Liv«, sagte er müde. »Verstehst du? Du hast geträumt.«
Liv starrte auf die Armbanduhr. Konnte es möglich sein, dass all das nicht geschehen war? Es hatte sich so real angefühlt. Und sie war ja auch hier in der Küche wieder aufgewacht. Andererseits – wohin hätte Jessie so früh am Morgen auch verschwinden sollen? Und vor allem – warum?
Sie stöhnte auf und rieb sich mit den Händen über die Augen. Sie fühlten sich geschwollen und heiß an und sie erinnerte sich, dass sie gar nicht hatte aufhören können zu weinen.
»Versuchen wir noch ein oder zwei Stunden zu schlafen«, sagte Jessie. »Okay?«
Liv nickte. Sie fühlte sich so elend wie nie zuvor in ihrem Leben. Die Augen fielen ihr zu und ein wattiges Gefühl breitete sich in ihrem Kopf aus. Sie ließ sich von Jessie in ihr Zimmer führen und bekam gerade noch mit, dass die ersten Vögel vor ihrem Fenster anfingen zu singen, dann war sie weg.
9
Es war schon fast Mittag, als Liv aufwachte. Sie stellte sich für eine Ewigkeit unter die Dusche, aber der Versuch, alles abzuwaschen, was gestern passiert war, misslang ihr gründlich. Ihre Haut war rot und spannte, als sie endlich aus der Dusche trat. Sie zog eine Jeans und ein altes grünes Shirt mit dem Eerie High-Aufdruck an und verzichtete darauf, ihre Haare zu kämmen. Sie konnte sich jetzt nicht vorstellen, geduldig vor dem Spiegel zu stehen und Strähne für Strähne ihrer dichten Locken zu entwirren. Vielleicht schneide ich sie mir ganz ab, fuhr es ihr durch den Sinn. Vielleicht trage ich sie so kurz wie das tote Mädchen in unserem Vorgarten.
Ihr Handy klingelte, sie zuckte zusammen, obwohl es eigentlich keinen Grund dafür gab. Sie verbot sich den Gedanken an Daniel, aber als sie aufs Display schaute, kamen ihr fast die Tränen vor Erleichterung. Es war ihre Mom, die aus Venedig anrief. Ihre Stimme klang ganz nah und Liv musste sich zusammenreißen, um nicht wirklich zu weinen. Ihre Mutter schien es genauso zu gehen, denn irgendwann übernahm ihr Vater das Gespräch. Auch er hatte eine
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