Harmlose Hölle - Raum 213 ; Bd. 1
ungewöhnlich raue Stimme, aber er erklärte ihr kurz und knapp, wie es seine Art war, dass sie auf dem Weg nach Hause seien. »Liv, hörst du, du musst nur noch ein bisschen durchhalten, dann sind wir da«, sagte er.
Liv konnte nicht viel antworten, sie nickte nur immer wieder und hätte in diesem Moment alles gegeben, dass sie ihren Eltern einen Städtetrip nach New York geschenkt hätten anstelle dieser zwei Wochen Venedig. Dann wären die beiden schon längst zu Hause, und auch wenn dieser Albtraum dann vielleicht nicht zu Ende gewesen wäre, würde sie sich doch sicher fühlen.
Nach dem Gespräch ging Liv nach unten. Halb erwartete sie, die Polizeimannschaft von gestern Abend in der Küche anzutreffen, aber es war nur Jessie, der am Küchentisch saß und auf sie wartete.
Die Ringe unter seinen Augen waren zu tiefschwarzen Schatten geworden und Liv fragte sich kurz, ob ihr großer Bruder überhaupt geschlafen hatte. Plötzlich hatte sie ein schlechtes Gewissen. Sie wusste, dass Jessie dazu neigte, sich für alles verantwortlich zu fühlen. Immerhin war er der Ältere von ihnen beiden und hatte auch ganz offiziell die Verantwortung.
»War die Polizei noch mal da?«, fragte sie. Ihre Stimme klang belegt und so tief, als ob sie die ganze Nacht durchgefeiert hätte. Die Sonne schien hell durch die Küchenfenster, nach dem gestrigen Gewittersturm schien es heute wieder ein strahlender Tag zu werden.
Jessie nickte bloß und erhob sich langsam und schwerfällig, was bei seinem sportlichen Körper seltsam aussah.
»Haben sie schon etwas rausgefunden?«, fragte sie und lehnte sich an die Küchentheke. Sie hatte nicht mal die Kraft, sich Kaffee zu nehmen.
»Wenn, dann sagen sie es mir nicht.« Jessie zuckte mit den Schultern. »Übrigens, du brauchst heute deine Aussage noch nicht zu Protokoll geben. Die Polizei will bis morgen warten, wenn Mom und Dad wieder hier sind. Sie haben einen Flug morgen in aller Frühe bekommen. Es geht irgendwie darum, dass du noch nicht volljährig bist.«
Liv nickte. Gut. Alles war gut, solange sie nicht mit der Polizei sprechen musste.
Jessie schob ihr einen Kaffee hin und Liv verzichtete auf die Milch, die sie sonst hineintat. Sie verbrannte sich fast die Zunge, so heiß war er, und er schmeckte fies, aber egal, sie hatte den Eindruck, so half er besser, das wattige Gefühl in ihrem Kopf zu vertreiben.
»Haben sie ihn festgenommen?« Sie wollte seinen Namen nicht aussprechen, aber Jessie wusste auch so, von wem sie sprach.
Ihr Bruder sah sie mit einem merkwürdig starren Blick an. »Wir wissen doch gar nicht, ob Ethan etwas damit zu tun hat. Oder ob er gestern wirklich hier war.«
Nein, das wussten sie nicht. Aber konnte das ein Zufall sein? Liv wurde nach einer Party überfallen und am nächsten Tag in der Cafeteria bedroht. Und am Abend bekam sie eine merkwürdige Mail und fand daraufhin die Leiche eines Mädchens in ihrem Vorgarten.
Zufall? Ganz bestimmt nicht.
Andererseits: Warum ging sie so automatisch davon aus, dass es Ethan gewesen war? Schließlich hatte er ihr eigentlich nichts getan, obwohl er die Gelegenheit dazu gehabt hatte.
Liv dachte daran, was gestern Abend passiert war, bevor sie das tote Mädchen in ihrem Vorgarten fand. Merkwürdigerweise fiel ihr erst jetzt auf, wie ungewöhnlich es war, dass sie die Tote noch nie gesehen hatte.
Eerie war eine Kleinstadt, die Eerie High die einzige Highschool im Ort. Hier kannte jeder jeden. Die einzige Erklärung war, dass das Mädchen nicht von hier stammte.
»Was ist mit der E-Mail?«, fragte Liv. »Haben sie den Absender herausgefunden?«
Jessie starrte sie einen Moment lang nur stumm an. »Liv«, sagte er und seine Stimme klang gepresst. »Sie sagen, sie hätten Experten drangesetzt. Leute, die sich wirklich auskennen. Aber sie haben keine Spur von der Mail gefunden, von der du gesprochen hast.«
10
»Versprich mir, dass du im Diner bei Summer bleibst, bis ich dich abhole.«
»Ja.« Liv war genervt. Vorhin hatte sie noch gedacht, wie gut es war, dass Jessie die Verantwortung übernahm, aber dass er jetzt dermaßen auf großen Bruder machte, das war ihr doch zu viel. Er musste noch ins College, um eine Hausarbeit abzugeben, und er hatte darauf bestanden, dass Liv nicht allein zu Hause blieb.
Liv hatte kurz überlegt, in die Schule zu gehen, aber dann war sie doch davor zurückgeschreckt. Sie sehnte sich zwar nach Mai und Toby, aber die würden nach der Schule vorbeikommen. Sie hatten gefühlte vierhundert
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