Harold - Einzlkind: Harold
streng.«
Harold ist mehr als gar nicht wohl.
»Melvin hat meistens bis halb vier Unterricht und ist so gegen sechzehn Uhr zuhause. Das heißt, er würde dann bei Ihnen klingeln. Mittagessen gibt es in der Schule, abends mag er nur ein Glas Sojamilch. Das macht er seit sechs Jahren so, er will nichts anderes, ich habe schon alles versucht, keine Chance. Im Grunde ist alles da, was Melvin braucht, aber falls Sie mal mit ihm ein Eis essen oder ins Kino gehen wollen, habe ich noch 100 Pfund dagelassen, Sie sind natürlich eingeladen. Ich wäre nächsten Freitag wieder da. Den Zweitschlüssel gebe ich Ihnen hier gleich mal, für alle Fälle. Ich danke Ihnen sehr, Sie helfen mir damit aus einer großen Verlegenheit. Melvin, sag tschüss, bis morgen.«
Melvin schaut zunächst seine Mutter an, dann Harold. Er rückt mit dem rechten Zeigefinger die Brille auf seiner Nase zurecht, dann hustet er in seine linke Faust und sagt: »Auf Wiedersehen.«
Harold ist absolut sicher, dass in den nächsten zehn Sekunden das Dach einstürzen wird.
Freitag
8
Die Tapete hat ein grün-braunes Rautenmuster, welches Harold seit zwei Stunden von seinem Sessel aus anstarrt. Sie ist noch von dem Vormieter. Einem hochdekorierten Leutnant a.D., der eingewiesen werden musste, da er an einem sonnigen Frühlingstag auf dem Trafalgar Square ein Taxi anhalten wollte.
Mit dem Maschinengewehr.
Auch den Sessel hat Harold übernommen, schlammbraun mit rotem Brokat verziert, der nur von zwei Männern gleichzeitig getragen werden kann. Die Wanduhr, auf die Harold ab und an schielt, ist noch von seiner Mutter, eines der wenigen Dinge, die Harold behalten konnte. Es ist drei Minuten vor vier. Es klingelt.
Der Weg bis zur Tür ist länger als sonst, der Dielenboden in Höhe des Sideboards quietscht gequälter als je zuvor und die Erdanziehungskraft muss in den letzten Stunden ihre ganze Aufmerksamkeit auf Harolds Wohnzimmer konzentriert haben. Als Harold die Tür öffnet, hat er das Gefühl, gegen einen Windsturm anzukämpfen.
»Hallo.«
Melvin blinzelt nach oben in Richtung Harold und reibt sich die Nase. Er hat Shorts an, in denen seine dünnen Beine sehr zur Geltung kommen, und einen Schulranzen, der doppelt so groß wirkt, wie er ist. Harold vollführt etwas Ähnliches wie eine einladende Bewegung und bietet Melvin mit einem unsicheren Nicken den Stuhl gegenüber an. Zwischen ihnen weilt ein flacher Tisch aus furnierter Eiche, der stoisch ein Tablett beherbergt. Harold hat Kakao gemacht und eine Dose »Grandma’s Biscuits« geöffnet.
Melvin schiebt den Schulranzen von seiner Schulter, rückt den Stuhl zurecht, seine Blicke flattern durch den Raum, er nimmt sich einen Keks, trinkt von dem kalten Kakao und sagt: »Ich bin ein Savant.«
Harold weiß nicht recht, warum der Ficus benjamini schon so früh braune Blätter bekommt.
»Sie wissen, was ein Savant ist?«
Harold überlegt kurz und entscheidet sich für französischen Käse, er runzelt wissend die Stirn, wie er es bei Humphrey Bogart in Tote schlafen fest gesehen hat.
»Ein Genie. Ich habe ein fotografisches Gedächtnis. Im Gegensatz zu den meisten Savants bin ich aber kein Autist. Ich kann alleine mit dem Bus fahren und bin der Kontemplation fähig, Dialektik, Sie verstehen? Gleichwohl habe auch ich leicht autistische Züge und würde es vorziehen, wenn wir jeglichen Körperkontakt meiden können. Es reicht vollkommen aus, wenn Sie mich in gebührender Distanz mit Respekt behandeln, dann denke ich, kommen wir beide auch gut miteinander aus. Es sind ja nur sieben Tage.«
Melvin nimmt sich einen zweiten Keks und wackelt mit übereinandergeschlagenen Beinen, die nicht bis zum Boden reichen, luftig hin und her. Nach nur drei Minuten hat Harold schon das Gefühl, dass der Sauerstoff im Raum knapp wird. Das Leben hat sich zu schnell verändert, er war heute Morgen sogar im Park, um Enten zu füttern.
Er war noch nie morgens im Park.
Er war noch nie im Park. Und Enten hatte er auch noch nie gefüttert. Schuld war die Reportage im Independent . Wissenschaftler haben herausgefunden, dass Arbeitslose im Schnitt zwei Stunden täglich im Park verbringen und Enten füttern. Und da Harold nicht recht wusste, was er sonst machen sollte, ging er in den Park und blieb gleich vier Stunden, um sich für den nächsten Tag frei zu nehmen.
»Zwölf Bücher sind sehr wenig. Sie lesen wohl nicht viel. Ich habe 1.238 Bücher. Die meisten sind noch von meinem Großvater mütterlicherseits. Er war Philologe.
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