Harold - Einzlkind: Harold
Augen an und legt den Kopf ein wenig schräg. Mrs. Cardigan blickt leicht verunsichert erst zu Harold, dann wieder zu Melvin. »Melvin? Hast du mich verstanden? Waren die Wörter zu kompliziert, die ich benutzt habe?«
»Mit Verlaub, Mrs. Cardigan, ich spreche fließend Italienisch, Deutsch, Französisch, Spanisch, Portugiesisch und Finnisch. Und mit fließend meine ich nicht, wie der gemeine Engländer Englisch spricht. Ich meine fließend. Ich hätte Sie auch verstanden, wenn Sie mich auf Jiddisch gefragt hätten, obwohl ich diese Sprache nur zu 94 Prozent beherrsche.«
Mrs. Cardigan lehnt sich langsam zurück und nimmt eine etwas steifere Haltung an. Sie nippt an dem Kakao, verzieht das Gesicht und fragt: »Dann kann ich also immer noch auf eine Antwort hoffen?«
»Nun, da ich mich nonverbal anscheinend nicht präzise genug habe ausdrücken können, möchte ich vielleicht mit ein paar Gegenfragen antworten. Sie meinen, ob ich einen rosa Paviananus auf einem grauen Steinhügel hin und her wackeln sehen möchte? Sie wollen, dass ich mit dem braunen Bär am Stiel vor dem Löwenkäfig stehe und winke, winke mache, derweil ich den letzten Rest von Würde in diesen anmutigen Augen schimmern sehe? Glauben Sie an die Propaganda von artgerechter Tierhaltung ? Wann wurden Sie geboren?«
Mrs. Cardigan weiß nicht genau, was Melvin meint, glaubt aber herausgehört zu haben, dass der Zoo als Ausflugsziel nicht in die engere Wahl fällt. Mrs. Cardigan ist im Umgang mit elfjährigen Jungen noch unerfahren und weiß nicht, was ihnen gefällt. Sie ist Zeit ihres Lebens kinderlos geblieben, ein Gebärmutterdefekt, nach der siebten Fehlgeburt.
»Vielleicht zu einem Fußballspiel?«
»Gerne. Es ist bestimmt ein aufregender Zeitvertreib, erwachsenen Menschen zuzuschauen, wie sie auf einem mit Kreide bemalten Rasen einem Ball aus Kunstleder hinterherlaufen, um ihn in ein Netz zu schießen. Wenn es gelingt, werde ich mit Freude in den Armen der anderen 50.000 Zuschauer liegen, laolawellen und mir nach dem Spiel von den Herren Hooligans die Nase einschlagen lassen. Ich werde noch ein bisschen Olé, olé, olé, olé üben müssen.«
Melvin rümpft die Nase, weil das schwarze Gestell seiner Brille nach unten rutscht, und schaut Mrs. Cardigan an, als erwarte er den nächsten Vorschlag. Die aber hat ihr Interesse nun endgültig auf den Kakao gelenkt, weshalb Melvin es andernorts versucht:
»Harold, waren Sie schon mal auf der Rennbahn?«
9
Eigentlich mag Harold keine Pferde. Sie sind groß. Sie hinterlassen im Gehen ständig Geschäfte und wenn sie einen anschauen, hat Harold das Gefühl, als würden sie bis in die dunkelsten Gassen und Winkel blicken, die er selbst noch nie gesehen hat und vielleicht auch nicht sehen möchte. Die Jockeys sind für Harold das größte Rätsel. Von weitem sehen sie aus wie kleine Spielzeugpuppen, die zu einem Kindergeburtstag aufbrechen. Kaum 1 Meter 60 groß tragen sie weite rosa Blousons mit grünen oder gelben Rauten, die sie in enge weiße Hosen stecken, die wiederum in schwarzen, gelackten Lederstiefeln verschwinden. Harold ist in Stilfragen alles andere als ein Experte, aber die Mützen, die diese jungen Männer tragen, hält er für bedenklich.
Es ist das fünfte Rennen, das fünfte Mal, dass sie hier am Führring stehen und die Kontrahenten vorab mustern. Melvin hat Harold in den letzten zwei Stunden in die Geheimnisse des Pferdesports eingeweiht. Zumindest konnte er in der kurzen Zeit Grundkenntnisse über Sieg, Platz, Dreier, Doppelzwilling, Bodentiefe, Scheuklappen, Araber, Vollblüter, Trainer, Stall, Jockeys, Spritzen und Hufbeschlag vermitteln. Worauf es besonders ankommt, hat Melvin gesagt, ist die Intuition, das Auge und die Gewissheit. Die Schule des logischen Fühlens, wie Melvin es nannte, übermetaphysisch sozusagen, Einswerdung auch. Und dies gehe nur durch jahrelange Erfahrung.
»Die Acht, Orpheus«, flüstert Melvin, als wäre es ein Geheimnis, als wäre von nun an das Seiendste des Seienden von jeglichem Zweifel befreit. Es ist die dritte Runde im Führring. Die Pferde haben noch ihre Decken übergelegt, sie schnauben schwere Luft durch ihre Nüstern und manche schlagen nach hinten aus, und die Zuschauer weichen zurück und machen oh . Zwei Damen mit Hüten wie Geschenkkörbe fürchten um ihr Leben und verschütten kostbare Tropfen aus ihren Champagnergläsern, die sie mit ihren welken Fingern kaum zu halten wissen. Melvin aber kann den Blick von Orpheus nicht abwenden,
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