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Harold - Einzlkind: Harold

Harold - Einzlkind: Harold

Titel: Harold - Einzlkind: Harold Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Einzlkind
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Ich habe sie alle gelesen. Vielleicht trifft das Wort gespeichert eher zu. Sie können irgendein Buch nehmen, es aufschlagen und mich fragen, was dort steht, und ich werde Ihnen wortgetreu jede Zeile und jedes Wort wiedergeben. Es ist alles in meinem Kopf.«
    Harold ist beeindruckt und versucht seine Augenbrauen hochzuziehen, aber er benutzt den falschen Muskel und gähnt aus Versehen. Eine Fliege, die ihn schon seit zwei Tagen beschäftigt, ruht sich auf einem Keks mit Himbeermarmeladenüberzug aus und putzt sich die Flügel. Die Dose Insektenspray ist fast leer. Dabei heißt sie »Superfantastik«.
    »Ich kenne auch alle Beethoven-Sonaten auswendig und ich habe dreimal hintereinander die Schul-Schach-Meisterschaft gewonnen. Ich habe 4,5 Dioptrien plus auf dem linken und 5,5 auf dem rechten Auge. Meine Hobbys sind mir nicht bekannt. Ich beschäftige mich mit Philosophie, Mathematik und experimenteller Physik. Ich habe zwei Klassen übersprungen. Mein Notendurchschnitt liegt bei 1,0. Ich bin vom Sportunterricht befreit. Aufgrund einer Lungenentzündung, die ich mir als Vierjähriger bei einem Badeunfall im Frühsommer zugezogen habe und deren Spätfolgen mein Atmungssystem beeinträchtigen. Falls Sie noch Fragen haben, wäre dies der richtige Zeitpunkt, um sie zu stellen.«
    Da Melvin diese Informationen in einem für normale Gehörgänge aberwitzigen Tempo in die Stille des Raumes drangsalierte, ist Harolds erste Reaktion Verwirrung. Der Versuch, die Dinge zu ordnen, scheitert am erneuten Haustürklingeln, einer Heimsuchung, der Harold nicht gewachsen ist.
    Wenn nacheinander zwei Klaviere aus fünfzig Meter Höhe nach unten rasen und man zufälligerweise genau auf den Landekoordinaten steht und es sich zeitlich nicht einrichten lässt, nach links oder rechts zu springen, und wenn einen das erste Klavier emotionslos in den Bürgersteig fräst und das zweite Klavier den Torso bis ins Wurzelwerk pflügt, dann würde Harold seinen Gemütszustand adäquat beschrieben wissen. Zwei Besuche zur gleichen Zeit, am gleichen Tag, im selben Monat sind für Harold mit der Empfindung Freude nur schwer in Einklang zu bringen.
    Es klingelt erneut.
    Melvin schaut Harold an, Harold starrt auf die Tür. Er ist sich nicht sicher, ob seine Kräfte reichen, um die Tür zu erreichen, um sie zu öffnen. Er greift mit beiden Händen die Sessellehnen, er stützt sich ab, er weiß, dass er Muskeln besitzt, jeder Mensch besitzt Muskeln, das ist Biologie, und zwanzig Zentimeter sind schon geschafft, noch ein kleiner Ruck, die Ellbogen fangen an zu zittern, die Knie geben nach, der Wille, so heißt es immer, sei stärker als alles andere, stärker als alle Muskeln der Welt, stärker als ... Harold plumpst in den Sessel zurück. Melvin starrt Harold an, Harold blickt ins Nichts.
    Stille.
    Vielleicht war es nur eine akustische Halluzination im Raum-Zeit-Kontinuum.
    Es klingelt erneut.
    Das Übermenschliche zu erfahren, es zu spüren, wie es wächst, wie es den Körper durchströmt und einem Superhelden gleich ungeahnte Kräfte freisetzt, das Physikalische trotzig missachtet und sich jedwedem Anflug von Schwäche entledigt, ist für Harold ein ungewohntes Erlebnis. Und würde ihn jemand in zwanzig Jahren fragen, wie er es geschafft habe, sich zu befreien und die Tür zu erreichen, so würde er nur mit den Schultern zucken können und es mit einer lässigen Handbewegung abtun, wie er es bei Orson Wells in Der dritte Mann gesehen hat. Aber er erreicht die Tür, er öffnet sie ein zweites Mal, um einer weiteren Person Einlass zu gewähren oder aber, da die Hoffnung nun einmal zuletzt stirbt, nur ein Einschreiben entgegenzunehmen. Es ist Mrs. Cardigan, die ohne großes Zögern den kleinen Flur überquert und im Raum die Anwesenheit erhöht.
    »Hallo Harold, ich wollte nur mal vorbeischauen und sehen, ob Sie mit dem jungen Mann klarkommen. Hallo Melvin, wie geht es dir?«
    »Ich bin schon so lange glücklich, dass es mich depressiv macht. Wie geht es Ihnen?« Mrs. Cardigan ist für Ironie am frühen Nachmittag nicht in Stimmung und entscheidet sich spontan für: »Gut.« Harold schiebt ihr den Stuhl vom Fenster heran, den Mrs. Cardigan gerne beansprucht. Auch eine Tasse Kakao schlägt sie nicht ab, das Gemütliche ist eine Verpflichtung, der sie in den letzten Jahrzehnten den Großteil ihrer Freizeit opfert.
    »Und, was werdet ihr beide heute machen? Einen Ausflug? Möchtest du vielleicht in den Zoo, Melvin?«
    Melvin schaut Mrs. Cardigan mit großen

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