Harold - Einzlkind: Harold
seine Augen flattern leicht und ein kaum merkbares Zittern befällt seinen ganzen Körper.
»Schauen Sie nur, Harold, der Schweif und das Fell, wie es glänzt, ein perfekter Körper aus Muskeln, Sehnen und Knochen, sehen Sie nur, wie er den Kopf nach oben hält, unbeirrt, aber nicht nervös, und der Gang ein einziges Fordern. Er ist es. Die Nummer acht, Orpheus.«
»Ich will die Drei.« Ein Mädchen, höchstens fünf, kaut an einer Wurst, die in einem Brötchen steckt, und schaut Melvin mit großen blauen Augen an. Melvin schaut auf das junge Ding hinunter und legt den Kopf schräg.
»Wenn du die Drei nimmst, verlierst du.«
»Warum?«
»Weil Karmen la Rock kein Name für ein Pferd ist, das gewinnen kann.«
»Möchtest du mal von meiner Wurst probieren?«
»Frag mich, ob ich Vegetarier bin.«
»Bist du Vegetarier?«
»Nein. Frag mich, ob ich Veganer bin.«
»Bist du Veganer?«
»Nein. Frag mich, was ich denn sonst bin.«
»Was bist du denn sonst?«
»Frutarier. Frag mich, was das heißt.«
»Was heißt das?«
»Wir ernähren uns nur von Obst und Nüssen.«
»Bist du krank?«
»Hinfort, du kleines Ungeheuer. Harold, setzen Sie alles, was Sie haben, auf die Acht, Orpheus.«
Harold ist zum ersten Mal nicht sicher. Melvins Eingebungen bezüglich des Spitzenreiters waren bisher ähnlich stark und eindringlich, doch irgendetwas lief am Ende immer schief. Unglückliche Vorkommnisse, höhere Mächte oder korrupte Jockeys waren Schuld daran, dass keines der vier bisherigen Rennen den vorhergesagten Sieger hervorbrachte. Platz vier, fünf, drei und neun. Melvin hat bereits im ersten Rennen die 50 Pfund verloren, die er letzte Woche im Portemonnaie seiner Mutter gefunden hatte. Harold ist vorsichtiger gewesen, jeweils nur zwei Pfund pro Rennen, und auch nur nach mehrmaligem Zureden. Und jetzt ist da noch ein 20-Pfund-Schein, der für die ganze Woche reichen sollte, denn als Arbeitsloser, so scheint es ihm, sollte er die Sparsamkeit zur Berufung machen.
»Harold, ich habe Ihnen doch erzählt, dass ich ein Savant bin. Sie wissen noch, was das ist? Ich verstehe Pferde. Ich kann mit ihnen kommunizieren. Wir gehen jetzt zum Wettschalter und es wird der schönste Tag in Ihrem Leben. Sie werden sich von dem Gewinn Ferraris und Frauen kaufen können, in allen Farben.«
Willkommen meine Damen und Herren, zum fünften Rennen, dem Hauptrennen des heutigen Tages, dem großen Preis der Howard Franklin Speiseöl GmbH. Dotiert mit 50.000 Pfund. Favoriten sind mit 28 zu eins die Nummer vier, Flamineo, gefolgt von der Nummer neun, Windmaker, mit 35 zu eins und der Nummer zwei, Capulet, mit 42 zu eins. Zum engeren Favoritenkreis zählen auch die Nummer zehn, Penny Lane, mit 57 zu eins und die Nummer acht, Orpheus, mit 64 zu eins. Die Pferde sind jetzt im Geläuf und werden an die Boxen herangeführt. Es sind noch ungefähr fünf Minuten bis zum Rennen.
Melvin und Harold haben auf der Tribüne Platz genommen, die Ränge sind voll, es herrscht ein unstetes Durcheinander, ein Kommen, Suchen und Gehen, Geräusche und Stimmen vermischen sich, es riecht nach Bratkartoffeln mit Knoblauchsoße, Backfisch, Bier und weißen Weinen. Ein Mann mit krempigem Hut setzt sich in die Reihe vor Melvin. Er hustet den Geruch von Zigarren und Hochprozentigem in seine nächste Umwelt und nimmt das um seinen Hals baumelnde Fernglas in beide Hände. Melvin tippt ihm auf die Schulter, legt seinen Kopf schräg und schaut ihn an, woraufhin der Mann seinen Hut abnimmt.
Zwei Pferde müssen noch in die Boxen. Orpheus und Penny Lane. Jetzt ist Penny Lane drin und die Helfer schieben auch Orpheus rein. Es geht los. Der große Preis der Howard Franklin Speiseöl GmbH über anderthalb Meilen. Direkt an die Spitze setzt sich Flamineo mit Dwight Hanson im Sattel, gefolgt von Windmaker und Penny Lane, dicht dahinter Orpheus und Capulet, der dieses Mal von Terry Pratchett geritten wird. Das Feld ist noch dicht beieinander.
Melvin kaut an einem Strohhalm, den er noch von der ersten Cola behalten hat, und versucht den Nervenreflex in seinem rechten Knie zu unterdrücken. Links und rechts stehen die ersten Zuschauer auf, eine junge Frau in einem blumigen Sommerkleid hüpft auf viel zu hohen Absätzen auf der Stelle, andere schreien die Namen ihrer jeweiligen Favoriten. Harold versucht sich von dieser Aufregung anstecken zu lassen, aber er weiß nicht wie.
In der zweiten Kurve haben sich Flamineo und Penny Lane um gut zwei Längen vom Feld abgesetzt. Im Hauptfeld
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