Harold - Einzlkind: Harold
etwas umsonst gibt, scheint der Futterneid die kleinen Grenzen des Anstands mühelos zu überwinden, denn die Garnelen und Langusten sind schon rar, und jeder Neuankömmling wird argwöhnisch von jenen beäugt, deren Teller überquellen und auch beim besten Willen keinen weiteren Platz für einen Vorrat bieten.
Das Problem sind aber in diesem Fall nicht die Menschen, es ist das Büffet selbst, welches Harold und sogar Melvin zurückschrecken lässt. Denn das Büffet lebt. Der Camembert und Tilsiter, die Weintrauben und die Ananas, die Brotlaibe und Salzbrezeln, die Hähnchenschenkel und Dinkelfrikadellen, der Lachsschinken und der Wildreis, die Stangenbohnen und die Frühlingskartoffeln und auch die Nusstorte mit den Schokoraspeln und den kleinen Marzipanmöhren, deren grelles Orange jede Netzhaut zum Schmelzen bringt. Sobald Harold versucht, sich auf eine der Köstlichkeiten zu konzentrieren, spielt sein visuelles Vermögen Karamba und Krawumm. Die in zwei Hälften geteilte Grapefruit verändert mit jedem Augenzwinkern ihre Konsistenz, ihre Größe, ihr Sein, ihr Selbst. Sie wölbt sich, dehnt sich aus, zieht sich wieder zusammen, zerfließt wie zähflüssiges Magma in kleinen Strudeln, aus denen sämige Strähnen hilflos ineinander schwemmen. Die Weintrauben wachsen auf die Größe von Honigmelonen an, bis sie kurz vor dem Zerplatzen wieder auf Tischtennisballgröße schrumpfen. Am schlimmsten aber ist das Sushi, das sich wie eine Krabbelgruppe in einer Hippie-Kommune aufführt. Harold verliert seine Orientierung, sein Selbstverständnis von der Ordnung der Dinge, er bemerkt die kleinen Schweißtropfen, die von seiner Stirn tropfen und zu seinen Füßen den Indischen Ozean nachbilden. Das in kurzen Schüben auftretende Erzittern seines ganzen Körpers trägt auch zu keinerlei Entspannung bei, er muss fort von hier, blickt nach links und rechts, doch der einzige Fluchtweg ist von einer Gruppe junger Menschen in Trainingsjacken abgeschnitten, leichtes Aufkeimen von Panik, bis das Schild mit der Aufschrift Toilette seine Blicke streift, keine zehn Meter entfernt, die Füße setzen sich automatisch in Gang, keine Kontrolle mehr, Melvin alleine, wer ist Melvin, Junge, egal, weg, sofort.
Harold reißt die Tür auf und kann sein Glück kaum fassen, die Toilette ist unbewohnt, niemand da, auch keine Grapefruit. Doch plötzlich erklingt eine Stimme aus dem Nichts: »Wir mästen alle anderen Kreaturen, um uns selbst zu mästen; und uns selbst mästen wir für Maden.« William? William Shakespeare? Lebt William Shakespeare? Ist William Shakespeare hier auf der Toilette? Ein Hörspiel, es ist nur ein Hörspiel, keine Panik, es wird alles gut, der Wasserhahn ist nur einen Meter entfernt, er sieht normal aus, nicht länger anschauen, aufdrehen, links herum. Harold trinkt, sekunden-, minuten-, stunden-, tagelang. Als der Durst gelöscht ist, blickt er auf, in den Spiegel, ein Fehler, und noch bevor Harold den Entschluss fassen kann, sich in der Kloschüssel zu ertränken, fällt er in Ohnmacht.
14
Na, das nenne ich mal glasige Augen ... Hast du die Neue gesehen? ... Manchester hat ... auf den Sack bekommen ... Hallo, können Sie mich verstehen? ... Nächste Woche schon wieder Doppelschicht ... in dem Alter ... ts, ts, ts ... Es könnte sein ... auf gar keinen Fall ... Auspumpen! ... Ich dachte, Mary ... drittes Baby bekommen ... auch schon da? ... mmh, sicher ... den Schlauch etwas höher ... Paisley hat sich gestern ... Blinddarm ... übergeben ... Niete ... und bitte! ... der Tusch fehlt ... Törööö ... was für eine Suppe ... Scheibe Toast mit Käse ... junger Gouda ... definitiv ... Joghurt ... Erdbeere ... Kirsch ... Erdbeere ... Kirsch ... Erdbeere!! ... die kleinen Bröckchen ... sind kleiner ... Schlaumeier ... nur noch im Netz ... 200 Pfund verloren ... der Zivi soll sauber machen ... aufs Zimmer schieben ... morgen wieder auf den Beinen ...
Die grellen Deckenlichter flackern durch das hohe Tempo unruhig hinfort und die müden Rollen können die Unebenheiten des Bodens nur durch schepperndes Durchrütteln kompensieren, derweil sie in den Kurven quietschen, als würde man ihnen das Hartgummi bei lebendigem Leibe abziehen. Harold versucht, sein aufkeimendes Bewusstsein zu ordnen, sich zu orientieren und der Umgebung einen Namen zu geben. Hades? Eine Tür wird geöffnet, er wird reingeschoben. Die linke Seite ist durch ein anderes Bett samt Insassen bereits belegt und auf der gegenüberliegenden Seite sitzt jemand
Weitere Kostenlose Bücher