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Harold - Einzlkind: Harold

Harold - Einzlkind: Harold

Titel: Harold - Einzlkind: Harold Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Einzlkind
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vergessen sein.
    »Wissen Sie, Harold, da ich immer denken muss, vergesse ich das Fühlen«, sagt Melvin in die Stille hinein, und Harold erschrickt. »Manchmal glaube ich, ich habe es schon komplett verlernt, und das macht mir Angst. Ich kann immer seltener beschreiben, was ich empfinde, es erscheint mir so profan, so unwichtig, so menschlich. Und dann sind da die ganzen Wörter in meinem Kopf und die Zahlen und Werke und Gleichungen und Sinfonien und Abstraktionen und alle schreien immer hier bin ich und es ist nie ruhig, nicht einmal, wenn ich schlafe. Um es für Sie zu übersetzen: Stellen Sie sich vor, eine Eisenbahn würde jeden Tag 24 Stunden Ihren Kopf umkreisen und aus jedem Abteil lugen Menschen heraus und schreien Ihnen etwas zu. Verstehen Sie, Harold, ich weiß nicht um das Schöne des sinnlosen Nichtstuns, um das einfache Dasein, die Leere und die Stille. Wenn ich aus dem Fenster schaue, fragmentiere ich, ich starre nicht, wenn ich ein Buch lese, nehme ich auf, ich verbrauche nicht, wenn ich einen Film sehe, dekonstruiere, analysiere, manifestiere ich und so weiter. Ich möchte aber einmal nur sehen, riechen, hören, fühlen, schmecken und nicht verstehen. Keine Kontrolle mehr, nur noch empfinden. Und aus diesem Grund habe ich heute Morgen käuflich etwas erworben. Von einem Individuum, das mir auf der Straße ein klägliches Hallo entgegenkrächzte, das auf den Namen Lenny Ferguson getauft wurde und unter anderem mit Erdnüssen einen regen Handel betreibt. Ich habe aber keine Erdnüsse, sondern zwei kleine Stückchen Löschpapier von ihm gekauft. Sie glauben nicht, wie teuer dieses Lysergsäurediäthylamid ist. Ich kann von Glück reden, dass meine Ma, die ich über alles liebe, soweit ich weiß, noch recht altmodisch Geldscheine in Keksdosen sammelt. Ich habe übrigens Ihnen und mir jeweils ein Stück Löschpapier in den Kakao getan. Wir werden also in den nächsten Stunden, so Gott will, der Irrationalität Tür und Tor öffnen. Vielleicht werden wir sogar glauben, dass wir fliegen können. Ist das nicht großartig?«
    Harold versucht zu hyperventilieren und dann in Ohnmacht zu fallen. Es gelingt ihm vorerst nur, die linke Augenbraue zu heben. Immerhin, denkt Harold. Er starrt auf den Kakao und wartet auf das Gefühl, sehr, sehr wütend zu sein. Das Scheppern eines schwer beladenen Lastwagens dringt durch die mächtigen Altbaufenster und das Service zittert sich ungehalten seitwärts.
    »Das Individuum hat gesagt, dass sich die Wirkung je nach körperlicher Verfassung nach ein bis zwei Stunden einstellt.«
    Harold hält die Luft an.
    »Atmen. Es hat auch gesagt, dass wir uns nicht aktiv am Straßenverkehr beteiligen sollten. Es hat die Natur vorgeschlagen oder einen geschlossenen Raum mit vielen Menschen.«
    Harold hält die Luft an.
    »Atmen. Es gibt eine Ausstellung in der Kunstgalerie in Mayfair, moderne Fotografie, Corbijn, Goldin, La Chapelle und so. Ich denke, dort werden wir gut aufgehoben sein.«
    Harolds Kopf schlägt auf die Tischplatte.
    13
    Harold ist sich nicht sicher, was er von dem Foto halten soll. Die Anatomie ist die einer Frau und noch viel mehr die einer Barbie-Puppe. Harold war seit über zehn Jahren in keiner Kunstausstellung mehr und ist überrascht, welche Fortschritte die Fotografie in dieser Zeit gemacht hat. Die Frau auf dem Foto, die wie eine Barbie-Puppe aussieht, verändert sich, je länger man sie anschaut. Mal werden ihre Augen größer, mal ihre Nase, mal bewegen sich ihre Brüste, mal scheint der Boden sich zu bewegen und dann wieder ist es, als ob die Zeit stehenbliebe. Die Farben sind von solcher Intensität, dass Harold befürchtet, blind zu werden. Eine neue Orientierung, jetzt, ein Ausweg, nach oben schauen. Auf der weißen Wand steht mit roter Farbe gepinselt: Sind Sie auch schon tot? Harold findet die Frage zu kompliziert, er blickt auf das Sektglas mit Orangensaft in seiner Hand, ohne zu wissen, wie es dort hingekommen ist. Er versinkt in die sonniggelbe Flüssigkeit, die in chaotischen Wellen gegen das Glasinnere brandet, in dem feine Bläschen in wirren Mustern schäumend gegeneinander schlagen und dann in Strudeln von der Oberfläche in das tiefe Nichts gesogen werden. Eine neue Orientierung, jetzt. Als Harold wieder aufblickt, schrillt das Neonlicht durch seine Pupillen, ein gleißend weißer Teppich aus ruhelosen Strichen, Flächen und Reflektionen, der nur mit äußerster Anstrengung weggeräumt werden kann, die Wahrnehmung der Realität als Negativ,

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