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Harold - Einzlkind: Harold

Harold - Einzlkind: Harold

Titel: Harold - Einzlkind: Harold Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Einzlkind
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Koschinski hat eine brüchige Stimme mit einem leichten osteuropäischen Akzent, der den Vokalen unnötig viel Spielraum gewährt. Da Kehlkopf, Kiefer und Zunge keine harmonische Einheit mehr bilden, benötigen die Wörter ungefähr die Zeit eines Transatlantikfluges bis sie in hörbaren Lauten die Umwelt erreichen.
    »Sie glauben an das Ding im Himmel?«
    »Ich glaube an Gott.«
    »An Sünde, Zorn, Vergeltung, Vergebung, Nächstenliebe, Schlange, Apfel, Adam, Eva, Meeresteilung, Auferstehung und Dein Reich wird kommen ?«
    »Ich glaube an Gott.«
    »Wussten Sie, dass der Penis eines Blauwals bis zu 18 Meter lang werden kann?«
    »Nein.«
    »Aber Sie glauben an Gott?«
    »Ja.«
    »Und also auch an das niedliche Märchenbuch, umgangssprachlich Bibel genannt?«
    Melvin wartet darauf, dass Mr. Koschinski sein Bekenntnis wiederholt. Harold wartet auf das Abendbrot und betet, dass es mit ungarischer Salami belegt ist, auf die er aus heiterem Himmel einen kolossalen Appetit hat. Mr. Koschinski aber schließt die Augen für einen kurzen Moment und als er sie wieder öffnet, ist in den vormals trüben grauen Punkten ein etwas helleres Grau zu erkennen.
    »Junger Freund, du glaubst, wie ein Atheist glaubt zu wissen, wie ein Gläubiger zu glauben hat. Die Bibel ist nicht Gott. Die Bibel wurde von Menschen verfasst, bisweilen auch sehr dummen Menschen. Sie ist eine Überlieferung und wie in jeder Überlieferung ist sie voll von Zweifeln, Fehlern, Übertreibungen und ungenügender Syntax. Sie ist eine Inspiration, eine metaphysische Brücke zur Spiritualität, eine Quelle der Einkehr und ein Wegweiser zur individuellen Erkenntnis. Die Bibel ist nur für einfältige Fundamentalisten ein Gesetz. Aber die Frage ist, welche Erlösung wartet auf den Atheisten?«
    »Für einen Atheisten ist die Erlösung nicht Gott, sondern das Ende der Menschheit. Aber er ist damit nicht unglücklich. Er glaubt nur schlicht an die Evolution und weiß, es kann nur besser werden.«
    »Sicher, der Mensch ist Gottes größte Tragödie.«
    »Leider ist er auch in Tragödien kein großer Meister.«
    »Aber ein Gott.«
    Melvin ist amüsiert, nachdenklich, amüsiert und wieder nachdenklich. Harold ist nur nachdenklich, da der Tee in Krankenhäusern nach Pferdeurin schmeckt, wie Mrs. Cardigan zu sagen pflegt.
    »Sie glauben an ein Danach ?«
    »Der Glaube ist der Sieg über die Materie, das Ende und nicht der Anfang der Illusion, die Befreiung des Geistes von der unerträglichen Bürde, die wir Leben nennen. Finde den Weg, finde deinen Weg und du wirst glauben.« Die letzten Worte werden mit nahezu unmenschlicher Anstrengung entlassen und mit einem tiefen Seufzer verabschiedet. Mr. Koschinski schließt die Augen und sein Kopf fällt seitlich auf das Kissen. Melvin starrt auf das friedfertige Antlitz gegenüber und ist nicht sicher, ob dies die letzten Worte des Mr. Koschinski waren, und wenn sie es wären, so findet er, hätten sie weit mehr Eleganz als: Es ist vollbracht! Was wiederum auch keine große Kunst ist. Ob er die Krankenschwester rufen soll oder gleich ein Bestattungsunternehmen? Und was soll auf dem Grabstein stehen? Vielleicht: Das Leben ist auch nach dem Tod nicht lebenswert . Oder etwas prosaischer: Wer von Religion und ähnlichen Lotterien keine Ahnung hat, sollte wenigstens gut frühstücken . Etwas zu lang und vielleicht auch nicht im Sinne Mr. Koschinkis, aber spielt das letzten Endes eine Rolle? Wohl kaum. Doch noch bevor Melvin eine Entscheidung ob seiner Handlungsalternativen treffen kann, vernimmt er ein leises, aber immer lauter werdendes Schnarchen aus Mr. Koschinskis Ecke. Pech für die Krankenkasse.
    Melvin starrt aus dem Fenster, auf den Vollmond, der sich vorgeschlichen hat, er ist unsicher, aber vielleicht ist das jetzt der richtige Zeitpunkt, vielleicht hat er nur noch diesen kleinen Schubs gebraucht, die Pläne liegen in der Schublade, zwei Jahre lang hat er recherchiert, Berufliches und Persönliches herausgefunden, Routen berechnet und jeden Dialog schon zweitausend Mal im Kopf durchgespielt. Jede Frage kennt er auswendig und auf jede mögliche Antwort ist er vorbereitet. Und seit er von dem Brief erfuhr, hat er jeden Monat aus dem Portemonnaie seiner Mutter einen kleineren bis größeren Betrag angespart, und jetzt sind es 800 Pfund, die im Ulysses zwischen den Seiten kleben.
    »Wo wir gerade von Wegen sprachen, Harold ...« Melvin macht eine kurze Pause, um Luft zu holen. Harold fühlt sich, als hätte ihm ein Rottweiler

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