Harper Connelly 01 - Grabesstimmen-neu-ok-10.12.11
überzeugt. »Die Wette hast du schon so gut wie
verloren. Siehst du? Sie nimmt gerade all ihren Mut zusammen.«
Der Regen
wurde schon wieder stärker, als sie beschloss, es mit uns aufzunehmen. Sie
sprang aus dem Wagen und rannte auf meine Tür zu. Sie klopfte zweimal.
Tolliver
machte die Lampe neben dem Bett an, während ich die Tür öffnete.
Sie starrte
mich an. »Sind Sie die Frau, die die Leichen findet?«
»Das weißt
du doch ganz genau, sonst wärst du uns nicht gefolgt. Ich bin Harper Connelly.
Komm rein.« Ich machte einen Schritt zurück, und sie betrat den Raum, nicht
ohne mir einen misstrauischen Blick zuzuwerfen. Sie sah sich sorgfältig um.
Tolliver saß in seinem Sessel und tat harmlos. »Das ist mein Bruder Tolliver
Lang«, sagte ich. »Er begleitet mich. Willst du eine Diet Coke?«
»Klar«,
sagte sie, als sei es undenkbar, einen Soft Drink abzulehnen. Tolliver holte
eine Cola aus dem Eisfach und gab sie ihr. Sie griff danach, wobei sie ihren
Arm so weit wie möglich ausstreckte, um ihm ja nicht zu nahe zu kommen. Ich
schob den anderen Sessel zurück, um ihn ihr anzubieten, und hockte mich auf die
Bettkante.
»Wie kann
ich dir helfen?«, fragte ich.
»Sie können
mir sagen, was mit meinem Bruder passiert ist. Das heißt nicht, dass ich das,
was Sie machen, gut finde oder auch nur im Geringsten moralisch vertretbar.«
Sie starrte mich an. »Aber ich will wissen, was Sie denken.«
Sie musste
einen guten Sozialkundelehrer haben.
»Gut«, sagte
ich langsam. »Wenn du mir sagst, wer dein Bruder ist?«
Sie wurde
rot. Sie war es gewohnt, ein dicker Fisch in einem sehr kleinen Teich zu sein.
»Ich bin Nell«, sagte sie abgehackt. »Mary Nell Teague. Dell war mein Bruder.«
»Du kannst
kaum jünger sein als er.«
»Wir waren
zehn Monate auseinander.«
Tolliver und
ich warfen uns einen flüchtigen Blick zu. Dieses Mädchen war nicht nur
minderjährig, sondern auch die Schwester eines Mordopfers. Und ich hätte wetten
können, dass sie noch nie länger als für einen zweiwöchigen Urlaub aus Sarne
weg war.
»Moralisch
vertretbar«, wiederholte Tolliver, der über diesen Satz genauso verblüfft war
wie ich. Er sprach die Worte aus, als teste er ihren Klang.
»Ich will
damit nur sagen, dass ich das falsch finde, kapiert? Leuten zu sagen, was ihren
toten Verwandten zugestoßen ist. Ich will Sie nicht beleidigen, aber Sie
könnten sich das genauso gut alles ausdenken, oder etwa nicht?«
Von wegen,
ich will Sie nicht beleidigen! Ich war es leid, gesagt zu bekommen, ich sei ein
schlechter Mensch. »Jetzt hör mir mal gut zu, Neil«, meinte ich und versuchte
einigermaßen beherrscht zu klingen. »Ich verdiene meinen Lebensunterhalt, wie
ich es für richtig halte. Und wenn du mir unterstellst, dass ich mein Geld
nicht auf ehrliche Art und Weise verdiene, finde ich das in der Tat
beleidigend. Das ist ja wohl logisch.«
Vielleicht
war sie es nicht gewohnt, dass man ihre Worte ernst nahm. »Äh, na ja, gut«,
murmelte sie deutlich überrascht. »Trotzdem, können Sie's mir sagen? Das, was
Sie meiner Mom gesagt haben.«
»Du bist
minderjährig. Ich möchte deswegen keine Schwierigkeiten bekommen«, sagte ich.
Tolliver tat
so, als würde er es sich überlegen.
»Hören Sie,
ich bin zwar noch nicht achtzehn, aber doch trotzdem kein Kind mehr. Dell war
mein Bruder! Und ich finde, ich sollte wissen, was meinem Bruder zugestoßen
ist!«
Ihre Stimme
klang aufrichtig gequält.
Wir nickten
uns unmerklich zu.
»Ich glaube
nicht, dass er Selbstmord begangen hat«, sagte ich.
»Wusst ich's
doch«, sagte sie. »Wusst ich's doch.«
Für
jemanden, der so fest geglaubt hatte, ich sei eine Betrügerin, nahm sie meine Worte
erstaunlich schnell für bare Münze.
»Er hat also
nicht Selbstmord begangen«, sagte sie und redete sich regelrecht in Rage. »Dann
hat er auch Teenie nicht umgebracht, und wenn er Teenie nicht umgebracht hat,
dann hat er auch nicht...« Sie hielt inne, einen panischen Ausdruck im Gesicht,
der fast schon komisch wirkte. Sie hatte die Augen weit aufgerissen und kniff
die Lippen zusammen, um das entscheidende Wort wieder herunterzuschlucken, was
immer es auch gewesen war.
Wieder wurde
an die Tür geklopft, und Tolliver und ich zuckten zusammen. Wir hatten Nell
Teague angestarrt, als ob wir ihr das Geheimnis auf diese Weise entlocken
könnten.
»Na prima«,
sagte ich, nach einem Blick durch den Spion.
»Es ist
Sybil Teague, Tolliver.«
»Ach du
meine Güte«, sagte unsere Besucherin, die
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