Harper Connelly 02 - Falsches Grab-neu-ok-10.12.11
ein Geschenk
von Tolliver.
Wir waren
die einzigen Farbflecken in all dem Grau. Die Bäume, die um die alte Kirche,
den Kirchhof und den Friedhof standen, sorgten dafür, dass ich mir irgendwie
verloren vorkam, als hätte man uns am Rande des Bingham-Campus ausgesetzt.
»Miss Connelly, wir sind schon alle sehr gespannt auf Ihre
Vorführung«, sagte Dr. Nunley und grinste mir mehr oder weniger ins Gesicht. Er
machte eine einstudierte, weit ausholende Geste mit dem Arm und zeigte auf die
diversen Grabsteine. Die Studenten wirkten relativ teilnahmslos. Sie sahen eher
verfroren, gelangweilt und höchstens mäßig interessiert aus. Ich fragte mich,
wer wohl das Medium gewesen war. Es gibt nicht viele, die tatsächlich diese
Gabe haben.
Ich warf
erneut einen Blick auf Tolliver. Scheiß auf ihn, sagten mir seine Augen,
und ich lächelte.
Die
Studenten hatten ausnahmslos Klemmbretter dabei. Und auf allen war der
Grundriss des alten Friedhofs befestigt, in dem sämtliche Gräber eingezeichnet
und ordentlich beschriftet waren. Obwohl sich diese Information nicht auf ihren
Klemmbrettern befand, wusste ich, dass es detaillierte Aufzeichnungen über die
Begräbnisse auf diesem Friedhof gab, in denen die Todesursache der meisten hier
begrabenen Leichen verzeichnet war. Der Gemeindepriester hatte sie während der
vierzig Jahre gemacht, in denen er St. Margaret vorstand, und damit die Arbeit
seines Vorgängers fortgeführt. Aber Dr. Nunley hatte mir auch gesagt, dass hier
seit fünfzig Jahren niemand mehr beerdigt worden war.
Die
St.-Margaret-Aufzeichnungen waren erst vor drei Monaten in einer Kiste im hintersten
Winkel der College- Bibliothek von Bingham gefunden
worden. Deshalb hatte ich keine Möglichkeit gehabt, bereits im Vorfeld an
Informationen zu kommen. Dr. Nunley, der das Okkultismus- Seminar ins Leben
gerufen hatte, musste irgendwie von mir erfahren haben. Er wollte nicht recht
mit der Sprache herausrücken, wie ihm mein Name zu Ohren gekommen war, aber das
überraschte mich nicht. Es gibt Websites, die mit Websites verlinkt sind, die
wiederum mit anderen Websites verlinkt sind ... und in Underground-Kreisen bin
ich berühmt.
Clyde Nunley dachte, er bezahle mich, um mich vor seinem ›Unvoreingenommenes
Denken‹-Seminar bloßstellen zu können. Er dachte, ich hielte mich selbst für
eine Art Hellseherin oder Hexe.
Natürlich
ist das blanker Unsinn. Nichts von dem, was ich tue, hat etwas mit Okkultismus
zu tun. Ich bete zu keinem Gott, bevor ich Kontakt zu den Toten aufnehme. Ich
glaube an Gott, aber ich betrachte meine bescheidene Gabe nicht als ein
Geschenk Gottes. Sie wurde mir von einem Blitz gegeben. Aber falls Gott für
Naturkatastrophen verantwortlich ist, hat er sie mir wohl indirekt doch
geschenkt.
Als ich
fünfzehn war, traf mich der Blitz durch ein offenes Fenster des Wohnwagens, in
dem wir lebten. Damals war meine Mutter mit Tollivers Vater, Matt Lang,
verheiratet. Beide hatten zwei Kinder, Gracie und
Mariella. Außer dieser reizenden Kernfamilie und mir drängelten sich auch noch
meine Schwester Cameron, Tolliver und sein Bruder Mark
in dem Wohnwagen. Ich weiß nicht mehr, wie lange Mark noch bei vins lebte. Er ist mehrere Jahre älter als Tolliver. Wie dem auch sei, an
jenem Nachmittag war Mark nicht im Wohnwagen.
Es war
Tolliver, der versuchte, mich wiederzubeleben, bis der Krankenwagen kam.
Mein
Stiefvater machte Cameron die Hölle heiß, weil sie den
Krankenwagen gerufen hatte. Das kostete Geld, und natürlich waren wir nicht
versichert. Der Arzt, der mich über Nacht zur Beobachtung dabehalten wollte,
musste sich diesbezüglich so einiges anhören. Ich habe ihn nie wiedergesehen
und auch keinen anderen Arzt. Aber aus dem Internetforum, in dem ich mich
tummle, einem Forum für Leute, die einen Blitzschlag
überlebt haben, weiß ich, dass mir das höchstwahrscheinlich auch nichts genützt
hätte.
Ich habe
mich von dem Blitzschlag erholt - mehr oder weniger. Über einen Teil meines
Rumpfes und meines rechten Beins zieht sich ein merkwürdiges rotes
Spinnwebmuster. In diesem Bein habe ich Schwächeanfälle. Manchmal zittert meine
rechte Hand. Ich leide unter Kopfschmerzen und zahlreichen Ängsten. Und ich
kann Tote finden. Ist der Fundort bekannt, kann ich die Todesursache
feststellen.
Daran war
auch der Professor interessiert. Er besaß Unterlagen mit den Todesursachen fast
aller Personen auf diesem Friedhof, Unterlagen, zu denen ich keinen Zugang
hatte. Das war seine Vorstellung von einem
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