Harry Bosch 15 - Neun Drachen
beaufsichtigen. Ferras würde losgehen und Klinken putzen. Der Getränkemarkt befand sich in einem Areal mit zahlreichen kleinen Geschäften. Ferras würde von Tür zu Tür gehen und fragen, ob jemand etwas gesehen oder gehört hatte, was mit dem Mord in Zusammenhang stehen könnte. Beiden Ermittlern war klar, dass dabei vermutlich nichts herauskäme, aber machen mussten sie es trotzdem. Die Beschreibung eines Autos oder einer verdächtigen Person wäre unter Umständen das Puzzleteilchen, das am Ende zur Lösung des Falls beitrüge. Es gehörte einfach zur Arbeit eines Mordermittlers.
»Ist es okay, wenn ich einen der Streifenpolizisten mitnehme?«, fragte Ferras. »Sie kennen sich hier in der Gegend aus.«
»Klar.«
Bosch glaubte, der wahre Grund, weshalb Ferras einen Streifenpolizisten dabeihaben wollte, war nicht, dass der mit der Umgebung vertraut war. Sein Partner glaubte, er bräuchte Unterstützung, wenn er in dieser Gegend von Tür zu Tür ging und Fragen stellte.
Zwei Minuten, nachdem Ferras gegangen war, hörte Bosch vor dem Laden laute Stimmen und die Geräusche eines Tumults. Er ging nach draußen und sah, wie am gelben Absperrband zwei von Lucas’ Streifenpolizisten einen Mann mit Gewalt am Betreten des Ladens zu hindern versuchten. Der sich heftig zur Wehr setzende Mann war ein schmächtiger Asiate Mitte zwanzig in einem eng anliegenden T-Shirt. Rasch schritt Bosch auf die Rangelei zu.
»So, jetzt aber Schluss hier«, forderte er energisch, um erst gar keine Zweifel aufkommen zu lassen, wer hier das Sagen hatte.
»Lassen Sie den Mann los«, fügte er hinzu.
»Ich will meinen Vater sehen«, stieß der junge Mann hervor.
»Auf diese Tour werden Sie das aber nicht unbedingt erreichen.«
Bosch blieb bei der Gruppe stehen und nickte den zwei Streifenpolizisten zu.
»Um Mr. Li kümmere ich mich jetzt.«
Sie ließen Bosch mit dem Sohn des Toten allein.
»Wie lautet Ihr vollständiger Name, Mr. Li?«
»Robert Li. Ich möchte meinen Vater sehen.«
»Das kann ich durchaus verstehen. Wenn Sie das möchten, lasse ich Sie zu Ihren Vater. Aber das geht erst, wenn der Tatort freigegeben ist. Ich leite die Ermittlungen, aber selbst ich kann im Augenblick nicht in die Nähe Ihres Vaters. Deshalb muss ich Sie bitten, sich erst einmal zu beruhigen. Nur wenn Sie sich wieder gefangen haben, bekommen Sie, was Sie wollen.«
Der junge Mann blickte zu Boden und nickte. Bosch berührte ihn an der Schulter.
»Okay, gut.«
»Wo ist meine Mutter?«
»Sie wird im Hinterzimmer gerade von einem anderen Ermittler vernommen.«
»Kann ich wenigstens sie sehen?«
»Selbstverständlich können Sie das. Ich bringe Sie gleich nach hinten. Aber erst muss ich Ihnen noch ein paar Fragen stellen. Sind Sie damit einverstanden?«
»Sicher. Was wollen Sie wissen?«
»Zuallererst, mein Name ist Harry Bosch. Ich leite die Ermittlungen in diesem Fall. Ich werde herausfinden, wer Ihren Vater umgebracht hat. Das verspreche ich Ihnen.«
»Machen Sie keine Versprechungen, die Sie nicht zu halten beabsichtigen. Sie kannten ihn doch nicht mal. Es ist Ihnen vollkommen egal. Er ist für Sie doch nur irgendein … egal.«
»Irgendein was?«
»Ich sagte doch, egal.«
Bosch sah ihn eine Weile an, bevor er weitersprach.
»Wie alt sind Sie, Robert?«
»Sechsundzwanzig. Und jetzt würde ich gern meine Mutter sehen.«
Er wandte sich von Bosch ab und begann, auf den Eingang des Getränkemarkts zuzugehen, aber Bosch packte ihn am Arm. Der junge Mann war stark, aber in Boschs Griff steckte überraschende Kraft. Robert Li blieb stehen und blickte auf die Hand an seinem Arm hinab.
»Erst möchte ich Ihnen etwas zeigen, dann bringe ich Sie zu Ihrer Mutter.«
Bosch ließ Lis Arm los und holte das Streichholzheftchen aus seiner Tasche. Er reichte es Li, der es verständnislos ansah.
»Was soll damit sein? Diese Dinger haben wir lange an unsere Kunden verteilt, doch mit der Wirtschaftskrise konnten wir uns solche Werbeausgaben irgendwann nicht mehr leisten.«
Bosch nahm das Streichholzbriefchen wieder an sich und nickte.
»Ich habe es vor zwölf Jahren hier, in diesem Laden, von Ihrem Vaters bekommen«, sagte er. »Sie waren damals wahrscheinlich gerade mal vierzehn. In L.A. wäre es damals um ein Haar zu schweren Unruhen gekommen. Genau hier. An dieser Kreuzung.«
»Ich weiß. Sie haben den Laden geplündert und meinen Vater verprügelt. Er hätte ihn hier nicht wieder eröffnen sollen. Meine Mutter und ich, wir haben ihn zu überreden
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