Harry Bosch 15 - Neun Drachen
rechnete nicht damit, den Fall mit ihm als Täter zum Abschluss zu bringen. Das wäre zu einfach gewesen, und bei diesem Fall deutete einiges darauf hin, dass seine Lösung nicht ganz so simpel wäre.
Neben dem Büro des Captain war ein Besprechungszimmer mit einem langen Holztisch, das in den Mittagspausen vor allem als Aufenthaltsraum genutzt wurde. Ansonsten fanden dort gelegentlich Personalversammlungen oder Besprechungen zu Fällen statt, an denen mehrere Ermittlerteams beteiligt waren. Der Bereitschaftsraum war inzwischen leer, und Bosch hatte das Zimmer unter Beschlag genommen und mehrere Tatortfotos, frisch von der Spurensicherung, auf dem Konferenztisch ausgebreitet.
Er hatte die Fotos zu einem Mosaik aus sich überlappenden Bildern zusammengefügt, die als Ganzes betrachtet den gesamten Tatort abbildeten. Es erinnerte stark an die Fotoarbeiten des englischen Künstlers David Hockney, der eine Weile in Los Angeles gelebt und zahlreiche Fotokollagen von südkalifornischen Szenen geschaffen hatte. Bosch kannte die Fotomosaiken des Künstlers, weil Hockney in den Hügeln über dem Cahuenga Pass eine Weile sein Nachbar gewesen war. Obwohl Bosch Hockney nie persönlich kennengelernt hatte, fühlte er sich dem Künstler verbunden, weil er seine Tatortfotos immer schon zu einem Mosaik zusammengefügt hatte, das ihm ermöglichte, die Dinge aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten und neue Details zu entdecken. Genauso verfuhr Hockney bei seiner Arbeit.
Als Bosch sich nun, an einem Becher schwarzem Kaffee nippend, die Fotos ansah, lenkten zunächst dieselben Dinge seine Aufmerksamkeit auf sich, die ihm schon am Tatort am stärksten in die Augen gefallen waren. Ganz besonders galt das für die Hennessy-Flaschen, die unangetastet hinter dem Ladentisch aufgereiht standen. Bosch bezweifelte, dass eine Gang hinter dem Mord steckte, weil er sich nicht vorstellen konnte, dass ein Gang-Mitglied zwar das Geld, aber keine einzige Flasche Hennessy mitgenommen hätte. Der Cognac wäre eine Trophäe gewesen. Und er befand sich in Reichweite, vor allem dann, wenn sich der Täter über den Ladentisch gebeugt hatte oder sogar hinter ihn gegangen war, um die Patronenhülsen einzusammeln. Warum dann nicht auch den Hennessy mitnehmen?
Das ließ für Bosch nur einen Schluss zu: Sie hatten es mit einem Täter zu tun, den der Hennessy nicht interessiert hatte. Mit einem Täter, der keiner Gang angehörte.
Der nächste wichtige Punkt waren die Wunden des Opfers. Nach Boschs Ansicht kam schon allein ihretwegen der geheimnisvolle Ladendieb nicht als Tatverdächtiger in Frage. Drei Schüsse in die Brust ließen keinen Zweifel daran, dass der Täter das Opfer hatte töten wollen. Aber er hatte ihm nicht ins Gesicht geschossen, und das sprach gegen die Annahme, dass es sich um einen Mord aus Wut oder Rache handelte.
Bosch hatte in Hunderten von Mordfällen ermittelt, bei denen vorwiegend Schusswaffen zum Einsatz gekommen waren, und er wusste, dass bei einem Schuss ins Gesicht einem Mord mit großer Wahrscheinlichkeit persönliche Motive zugrunde lagen und der Täter jemand war, der das Opfer kannte. Umgekehrt hieß das: Bei drei Schüssen in die Brust ging es nicht um etwas Persönliches, sondern um rein Geschäftliches. Bosch war sich sicher, dass der unbekannte Ladendieb nicht der Mörder war. Höchstwahrscheinlich hatte John Li seinen Mörder vorher nie gesehen. Es war jemand gewesen, der einfach in den Laden gekommen war und Li dreimal in die Brust geschossen hatte, dann in aller Ruhe die Registrierkasse ausgeräumt und die Patronenhülsen eingesammelt hatte und schließlich ins Hinterzimmer gegangen war, um die DVD aus dem Aufzeichnungsgerät der Überwachungskamera zu nehmen.
Bosch vermutete, dass es sich mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht um ein Erstdelikt handelte, und nahm sich vor, am nächsten Morgen nach ähnlichen Straftaten im Großraum Los Angeles zu forschen.
Als er das Foto vom Gesicht des Opfers betrachtete, fiel ihm plötzlich etwas auf. Lis Kinn und Wangen waren blutverschmiert. Aber die Zähne waren sauber. Auf ihnen war kein Blut.
Bosch hielt das Foto näher an seine Augen und überlegte, was das bedeuten könnte. Bisher hatte er angenommen, dass Li das Blut, das sich auf seinem Gesicht befand, ausgehustet hatte; dass es mit seinen letzten stoßartigen Atemzügen aus seinen zerfetzten Lungenflügeln gekommen war. Aber wie sollte das gehen, ohne dass Blut auf seinen Zähnen zurückblieb?
Bosch legte das Foto an
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