Harry Potter - Gesamtausgabe
nüchterner Stimme, »dann leih ich mir fürs Erste einfach mal deinen aus. Während ich Wache halte.«
Mit tränennassem Gesicht reichte Hermine ihm ihren Zauberstab, und er ließ sie an seinem Bett sitzend zurück, wollte nichts wie weg von ihr.
Leben und Lügen des Albus Dumbledore
Die Sonne ging auf: Klar und farblos erstreckte sich der weite Himmel über ihm, gleichgültig gegen ihn und sein Leid. Harry setzte sich in den Zelteingang und atmete tief die saubere Luft ein. Einfach nur am Leben zu sein und die Sonne über dem glitzernden, verschneiten Hang aufgehen zu sehen, sollte eigentlich der größte Schatz auf Erden sein, doch er konnte es nicht genießen: Seine Sinne waren in Aufruhr über das Unglück, seinen Zauberstab verloren zu haben. Er blickte hinaus über ein Tal, das unter einer Schneedecke lag, ferne Kirchenglocken läuteten in der glitzernden Stille.
Unwillkürlich grub er sich die Finger in die Arme, als ob er versuchte, einem körperlichen Schmerz standzuhalten. Er konnte nicht mehr sagen, wie oft er sein Blut schon vergossen hatte; einmal hatte er alle Knochen seines rechten Arms verloren; auf dieser Reise hatte er sich bereits Narben an der Brust und am Unterarm zugezogen, die noch zu denen auf seiner Hand und Stirn dazukamen, doch bis zu diesem Moment hatte er sich nie so tödlich geschwächt, so verletzlich und nackt gefühlt, als wäre ihm der größte Teil seiner magischen Kraft entrissen worden. Er wusste genau, was Hermine sagen würde, wenn er etwas davon zur Sprache bringen würde: Der Zauberstab ist nur so gut wie der Zauberer. Aber sie irrte sich, in seinem Fall war es anders. Sie hatte nicht gespürt, wie sich der Zauberstab wie eine Kompassnadel gedreht und goldene Flammen auf seinen Feind abgeschossen hatte. Er hatte den Schutz der Zwillingskerne verloren, und erst jetzt, da er verloren war, erkannte er, wie sehr er sich auf ihn verlassen hatte.
Er zog die Einzelteile des zerbrochenen Zauberstabs aus der Tasche und steckte sie ohne einen Blick darauf in Hagrids Beutel, der um seinen Hals hing. Der Beutel war jetzt so voll mit kaputten und nutzlosen Dingen, dass kein Platz mehr darin war. Harrys Hand spürte den alten Schnatz durch das Eselsfell, und einen Moment lang musste er gegen die Versuchung ankämpfen, ihn herauszuholen und wegzuwerfen. Unergründlich, nutzlos, unbrauchbar wie alles, was Dumbledore hinterlassen hatte –
Und sein Zorn auf Dumbledore brach über ihn herein wie Lava, glühte ihn aus, fegte jedes andere Gefühl beiseite. Aus purer Verzweiflung hatten sie sich eingeredet, dass Godric’s Hollow Antworten bereithielte, und sich gegenseitig davon überzeugt, dass sie zurückgehen sollten, dass alles Teil eines geheimen Weges sei, den Dumbledore für sie vorgezeichnet hatte; aber es gab keine Karte, keinen Plan. Dumbledore hatte sie im Dunkeln tappend zurückgelassen, sie mussten allein und ohne Hilfe mit unbekannten und ungeahnten Schrecken kämpfen: Nichts wurde ihnen erklärt, nichts bekamen sie umsonst, sie hatten kein Schwert, und jetzt hatte Harry auch keinen Zauberstab mehr. Und er hatte das Foto des Diebes fallen lassen, und für Voldemort würde es nun sicher leicht sein, herauszufinden, wer dieser Dieb war … Voldemort hatte jetzt alles, was er wissen musste …
»Harry?«
Hermine sah aus, als fürchtete sie, er könnte ihr mit ihrem eigenen Zauberstab einen Fluch anhängen. Mit verweintem Gesicht hockte sie sich neben ihn, zwei Tassen Tee in ihren zitternden Händen und unter dem Arm etwas Sperriges.
»Danke«, sagte er und nahm eine der Tassen.
»Hast du was dagegen, wenn ich mit dir rede?«
»Nein«, sagte er, weil er sie nicht verletzen wollte.
»Harry, du wolltest wissen, wer dieser Mann auf dem Bild war. Also … ich hab das Buch.«
Zaghaft schob sie es in seinen Schoß, ein druckfrisches Exemplar von Leben und Lügen des Albus Dumbledore.
»Wo – wie –?«
»Es war in Bathildas Wohnzimmer, lag einfach da rum … dieser Zettel ragte oben raus.«
Hermine las die wenigen Zeilen in spitzer giftgrüner Handschrift laut vor:
»Liebe Batty, danke für deine Hilfe. Hier ist ein Exemplar des Buches, ich hoffe, es gefällt dir. Du hast das alles gesagt, auch wenn du dich nicht mehr daran erinnerst. Rita . Ich glaube, es muss angekommen sein, als die echte Bathilda noch am Leben war, aber vielleicht hatte sie schon nicht mehr die Kraft, es zu lesen?«
»Nein, wahrscheinlich nicht.«
Harry sah hinab auf Dumbledores Gesicht und
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