Harry Potter und die Heiligtümer des Todes
ihm nicht zu, sondern hatte sich auf dem laubbedeckten Boden ausgestreckt und blickte hoch zu dem Blätterdach über ihr. Er sah sie an, so begierig wie schon auf dem Spielplatz.
»Wie steht es bei dir zu Hause?«, fragte Lily.
Eine kleine Falte bildete sich zwischen seinen Augen.
»Gut«, sagte er.
»Sie streiten nicht mehr?«
»O doch, sie streiten«, sagte Snape. Er hob eine Faust voll Blätter auf und begann sie zu zerreißen, offenbar ganz in Gedanken verloren. »Aber es wird nicht mehr allzu lange dauern, dann bin ich weg.«
»Mag dein Dad denn keine Zauberei?«
»Er mag nichts besonders gern«, sagte Snape.
»Severus?«
Ein leises Lächeln zuckte um Snapes Mund, als sie seinen Namen sagte.
»Jaah?«
»Erzähl mir noch mal von den Dementoren.«
»Weshalb willst du was über die wissen?«
»Wenn ich außerhalb der Schule Zauber benutze …«
»Dafür jagen sie dir keine Dementoren auf den Hals! Dementoren sind für Leute, die richtig böse Sachen machen. Sie bewachen das Zauberergefängnis, Askaban. Du wirst nicht in Askaban landen, du bist zu …«
Er lief wieder rot an und zerfetzte noch mehr Blätter. Dann hörte Harry ein leises Rascheln hinter sich und er drehte sich um: Petunia, die sich hinter einem Baum versteckt hatte, hatte den Halt verloren.
»Tunia!«, sagte Lily in überraschtem und freundlichem Ton, aber Snape war aufgesprungen.
»Wer spioniert da jetzt?«, rief er. »Was willst du?«
Petunia war außer Atem, bestürzt, weil sie erwischt worden war. Harry sah, dass sie angestrengt nach etwas Verletzendem suchte, das sie sagen konnte.
»Was hast du da eigentlich an?«, sagte sie und deutete auf Snapes Brust. »Die Bluse von deiner Mum?«
Es gab einen Knall: Ein Ast über Petunias Kopf fiel herunter. Lily schrie: Der Ast traf Petunia an der Schulter, und sie stolperte rückwärts und brach in Tränen aus.
»Tunia!«
Aber Petunia rannte davon. Lily fiel über Snape her.
»Hast du das passieren lassen?«
»Nein.« Er blickte trotzig und erschrocken zugleich.
»Doch, das hast du!« Sie wich vor ihm zurück. »Das hast du. Du hast ihr wehgetan!«
»Nein – nein, hab ich nicht!«
Aber die Lüge überzeugte Lily nicht: Nach einem letzten flammenden Blick rannte sie aus dem kleinen Dickicht, ihrer Schwester hinterher, und Snape wirkte elend und durcheinander …
Und dann veränderte sich die Szene. Harry blickte sich um: Er war auf Bahnsteig neundreiviertel, und Snape stand dicht bei ihm, leicht gebeugt, neben einer hageren, blässlichen, mürrisch dreinblickenden Frau, die ihm stark ähnelte. Snape starrte auf eine vierköpfige Familie nur wenig entfernt. Die beiden Mädchen standen etwas abseits von ihren Eltern. Lily schien ihre Schwester anzuflehen; Harry näherte sich, um zu lauschen.
»… es tut mir leid, Tunia, es tut mir leid! Hör zu –« Sie ergriff die Hand ihrer Schwester und hielt sie fest, obwohl Petunia sie wegzuziehen versuchte. »Vielleicht kann ich, wenn ich erst mal da bin – nein, hör zu, Tunia! Vielleicht kann ich, wenn ich da bin, zu Professor Dumbledore gehen und ihn überreden, dass er es sich anders überlegt!«
»Ich will – nicht – dahin!«, sagte Petunia und zog ihre Hand aus dem Griff ihrer Schwester. »Meinst du, ich will in irgendein blödes Schloss und lernen, wie ich eine – eine –«
Ihre blassen Augen schweiften über den Bahnsteig, über die Katzen, die in den Armen ihrer Besitzer maunzten, über die Eulen, die in ihren Käfigen flatterten und sich gegenseitig ankreischten, über die Schülerinnen und Schüler, manche schon in ihren langen schwarzen Umhängen, die Schrankkoffer in den Zug mit der scharlachroten Dampflok luden oder sich mit freudigen Rufen begrüßten, nachdem sie sich einen Sommer lang nicht gesehen hatten.
»– meinst du, ich will ein – ein Spinner sein?«
Lilys Augen füllten sich mit Tränen, als es Petunia gelang, ihre Hand wegzureißen.
»Ich bin kein Spinner«, sagte Lily. »Es ist schrecklich, so was zu sagen.«
»Da gehst du doch hin«, sagte Petunia genüsslich. »In eine Sonderschule für Spinner. Du und dieser Snape-Junge … Verrückte, das seid ihr beide. Es ist gut, dass man euch von normalen Leuten trennt. Das ist zu unserer Sicherheit.«
Lily warf rasch einen Blick auf ihre Eltern, die sich auf dem Bahnsteig umsahen und sich offenbar von ganzem Herzen freuten und das Schauspiel genossen. Dann wandte sie sich wieder ihrer Schwester zu und sprach in leisem und grimmigem Ton.
»Als du dem
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