Hass
KAPITEL 1
San Francisco Donnerstagabend
Julia pfiff vor sich hin. Sie war glücklich, wirklich glücklich, zum ersten Mal seit einer halben Ewigkeit. Die Polizei hatte endlich aufgegeben, und die Medien hatten sich neuen, reizvolleren Geschichten zugewandt, um ihre Quoten hoch zu halten. Und auch die seelenlosen Paparazzi, die ihr zuvor hinter Sträuchern, Autos und Bäumen aufgelauert hatten, um sie zu erwischen (Wobei eigentlich? Hatten sie gehofft, dass sie einen Liebhaber traf, damit sie die Fotos davon an den National Enquirer verscherbeln konnten? Oder vielleicht, dass sie in aller Öffentlichkeit ein Mordgeständnis ablegte?), hatten sich nach sechs endlosen Monaten zurückgezogen und richteten ihre lästigen Kameras wieder auf Filmstars und Prominente, die um einiges interessanter waren als sie. Eigentlich war ihr Mann, Dr. August Ransom, derjenige gewesen, der die Medien anzog, nicht sie. Sie hatte nur eine zeitweilige Abwechslung dargestellt: die schwarze Witwe, die wahrscheinlich mit dem Mord an einem sehr berühmten Mann und Medium davongekommen war, an einem Mann, der mit den Toten sprach.
Frei, endlich bin ich frei.
Sie wusste nicht, wie weit sie von ihrem Haus in Pacific Heights aus gelaufen war, doch nun fand sie sich am Pier 39 an der Bucht wieder, dieser urtümlichsten aller Sehenswürdigkeiten, mit all den Läden, den pfiffigen weißgesichtigen Pantomimen und den ortsansässigen Seelöwen, alles nur einen Steinwurf vom Fisherman’s Wharf entfernt. Sie war in der himmlischen Confiserie gewesen und stand nun am Geländer an der Westseite des Pier 39, kaute genüsslich ihr köstliches Walnuss-Fudge und beobachtete dabei die übergewichtigen Seelöwen, die sich auf den hölzernen Pontons vor dem Pier rekelten. Um sie herum unterhielten sich Leute, lachten, machten Witze, stritten sich. Eltern drohten ihren Kindern oder versuchten, sie zu bestechen. Alles fühlte sich so normal an – es war wunderbar. Im April in San Francisco waren nicht die Regenschauer für die Maiblumen verantwortlich, sondern der herrliche Nebel, der von der Golden Gate Bridge heranrollte. Erstaunlicherweise hatte selbst die Luft einen speziellen Aprilnebelduft – frisch, würzig und ein wenig herb.
Sie ging zum Ende des Piers und schaute über das Wasser auf Alcatraz, das eigentlich gar nicht so weit entfernt war. Doch bei dem Versuch, die Strecke schwimmend zu überwinden, konnte man schon nach wenigen Minuten in dem eiskalten Wasser oder der unvorhersehbaren Strömung sterben.
Sie drehte sich um, stützte die Ellbogen auf das Geländer und beobachtete die Menschen um sie herum voller Lebenslust. Nur wenige spazierten ganz bis zum Ende des Piers. Die Lichter gingen an. Es wurde schnell kühl, doch in ihrer flippigen Lederjacke fror sie nicht. Sie hatte ihre Lieblingsjacke schon zu Collegezeiten bei einem Garagenflohmarkt in Boston entdeckt. August war immer gleichzeitig sauer und amüsiert gewesen, wenn sie sie getragen hatte. Weil sie seine Gefühle nicht verletzen wollte, hatte sie ihm nie gesagt, dass sie sich in der Jacke wieder jung fühlte – beschwingt, sowohl körperlich als auch geistig. Aber August war nicht hier, und sie fühlte sich in diesem Moment so jung und ausgelassen, als könne sie geradewegs von den dicken Holzplanken emporschweben.
Sie hatte nicht auf die Zeit geachtet, doch plötzlich nahm die Stille um sie herum zu, und alle Lichter waren bereits an. Die wenigen Touristen, die noch nicht zu ihren Hotels zurückgekehrt waren, hatten sich zum Abendessen auf das halbe Dutzend Restaurants in der Umgebung verteilt. Sie sah auf die Uhr – fast halb acht. Sie erinnerte sich an ihre Verabredung um acht im Fountain Club mit Wallace Tammerlane, ein Name, den er ohne Zweifel erfunden hatte, als er vor dreißig Jahren ins Hellsehergeschäft eingestiegen war. Er war ein langjähriger Freund von August gewesen, hatte ihr unzählige Male seit dem Tod ihres Mannes beteuert, dass August in Die Glückseligkeit aufgenommen worden sei, dass August nicht wisse, wer ihn ermordet hat, und dass es ihn nicht besonders kümmere. Er sei jetzt glücklich und würde immer auf sie aufpassen.
Julia hatte seine Worte angenommen. Immerhin war Wallace Augusts Freund gewesen. Doch sie wusste auch, dass August über viele dieser sogenannten hellsichtigen Medien gespöttelt und über ihre Mätzchen angewidert den Kopf geschüttelt hatte, obwohl er ihre geschickte Zurschaustellung rühmte. Was glaubte sie? Wie viele andere wollte
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