Hass
auch Julia gerne glauben, dass es besondere Menschen gab, die mit den Toten sprechen konnten. Tief in ihrem Innern war sie davon überzeugt, dass August einer von ihnen war, doch es gab nur sehr wenige wie ihn. Sie hatte in den Jahren mit ihm so viele Hochstapler gesehen und kennengelernt. Obwohl sie sich dazu nicht geäußert hatte, machte es sie doch skeptisch, dass ihnen zufolge alle Verstorbenen, egal wie sie gegangen waren, im Jenseits stets glückselig und zufrieden waren und in Frieden ruhten, ja sogar mit ihren toten Haustieren wieder vereint waren. Und sie fragte sich unweigerlich, ob August wirklich sorglos war in der Glückseligkeit, ob er nicht doch wollte, dass sein Mörder bezahlte. Wer würde das nicht wollen? Sie schon. Sie hatte seine Freunde und Kollegen in Wahrsagerkreisen gefragt, ob sie herausfinden könnten, wer ihn getötet hat, doch offenbar besaß keiner von ihnen dieses spezielle Talent. Der Mangel an Vision war bedauerlich, besonders für Julia, da die Polizei sich auf sie eingeschossen hatte und allem Anschein nach keine andere Spur verfolgte.
Sie wusste nicht, ob August mit diesem ungewöhnlichen Talent gesegnet gewesen war. In Fernsehserien konnten Hellseher Mörder ausfindig machen, sie sogar zur Strecke bringen. Sie konnten sehen, wen sie töteten und wie sie es taten, und wer bei der Aufklärung helfen konnte. War das alles nur Show, oder gab es solche Menschen wirklich? Sie wusste es nicht.
Wer hat dich umgebracht, August, wer? Und warum? Das war noch immer die allgegenwärtige Frage. Warum?
Augusts Anwalt, Zion Leftwitz, hatte sie nach dem Tod ihres Mannes angerufen. Es sei sehr wichtig, hatte er ihr auf den Anrufbeantworter gesprochen, es gehe um ihre Verantwortung gegenüber Augusts Besitz. Sie wusste, dass dieser Besitz nicht allzu umfangreich war.
Verpflichtungen, dachte sie, achtzig Prozent eines Lebens bestehen aus Verpflichtungen.
Sie hatte wahrlich keine Lust, mit Wallace zu Abend zu essen, seinen tröstenden Worten zu lauschen und zu hören, dass August jetzt seinen Frieden gefunden hatte. Dann müsste sie sich unausweichlich auch Geschichten über Wallace’ neuestes Erfolgserlebnis anhören. Vielleicht hatte er den lange verstorbenen Großvater des Bürgermeisters kontaktiert. Sie war sich hundertprozentig sicher, dass Wallace ihre Hochstimmung dämpfen würde. Und es bedeutete auch, dass sie ein Taxi nach Hause nehmen musste. Sie musste diesen magischen Ort verlassen, musste sich beeilen.
»Entschuldigen Sie bitte, das ist doch Alcatraz dort drüben, oder?«
Sie drehte sich um und erblickte einen großen Schwarzen mit markantem Kinn und Brille in einem langen Mantel neben ihr, der sie anlächelte.
Sie lächelte ebenfalls. »Ja, das stimmt.«
»Da fahre ich morgen hin. Aber heute … Wissen Sie, wann die nächste Fähre nach Sausalito ablegt?«
»Nein. Aber man muss nie lange warten. Es hängt ein Plan an der Seite des Gebäudes da drüben, nicht mal fünf Minuten vom Pier 39 …« Als sie sich leicht wegdrehte, um es ihm zu zeigen, schmetterte er ihr die Faust gegen das Kinn. Die Wucht des Schlages warf sie rückwärts gegen das hölzerne Geländer. Vor ihren Augen blitzte ein Licht auf, dann erblickte sie etwas Glänzendes in seiner Hand, etwas Scharfes – o Gott, ein Messer. Warum? Die Angst schnürte ihr die Kehle zu. Ihre ganze Aufmerksamkeit galt der silbernen Messerspitze.
Plötzlich rief ein Mann: »FBI! Hören Sie sofort auf, treten Sie zurück von ihr, oder ich schieße!«
Der Mann mit dem Messer hielt einen Augenblick inne und fluchte. Dann hievte er sie mit einer schnellen Bewegung hoch und warf sie über das Geländer in die Bucht. Sie fiel platschend ins eisige Wasser und rollte über die schwarzen Steine, die scharf wie Stilettklingen in ihre Haut stachen. Sie versuchte, gegen die Bewegung anzukämpfen, aber für einen kurzen Moment wurde ihr mit aller Schärfe bewusst, dass sie dem nicht entrinnen konnte, dass sie immer weiter fallen würde … Heulte da ein Seelöwe? Rief da jemand? Egal, denn alles um sie herum versank in Schwärze, als ihr Körper den steinigen Boden der Bucht berührte und das Wasser über sie hinwegwusch. Ihr letzter Gedanke, kaum mehr als ein Echo, war, dass sie nun nie mehr die Chance bekommen würde, wirklich glücklich zu werden.
KAPITEL 2
Der Druck auf ihre Brust erfolgte rhythmisch und fest, schien aber irgendwie außerhalb ihres Körpers zu sein. Dann spürte sie einen Mund auf ihrem, und ein enormer warmer
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