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Hauchnah

Hauchnah

Titel: Hauchnah Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Virna Depaul
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Verletzlichkeit und ihres dummen Stolzes. Insgeheim hatte er natürlich auch ein Interesse daran, die Frau besser kennenzulernen, nicht die Zeugin, und sei es nur aus dem Blickwinkel ihrer Freundin.
    Melissa hatte ihm erzählt, wie Natalie war, bevor sie ihr Augenlichtverlor. Von ihrer unbezähmbaren Reise- und Abenteuerlust, die manchmal geradezu ins Extrem ging. Von Duncan, dem „egoistischen Sack“, der sie verlassen hatte. Davon, wie anders sie jetzt war, zum Teil auch deswegen, weil ihre Mobilitätstrainerin und ihre Therapeutin behaupteten, Isolation wäre für Natalie der beste Weg, um sich in die neue Situation hineinzufinden. Natürlich hatte Melissa ihm auch erzählt, wie wenig sie von dieser Denkweise hielt, und Mac konnte nicht umhin, ihr zuzustimmen.
    Eine gewisse Genesungsphase, klar. Natürlich war die angebracht. Doch Natalie hatte ihr halbes Leben Zeit gehabt, um sich an den Gedanken zu gewöhnen, dass sie eines Tages womöglich blind sein würde. Dann hatte sie monatelang Zeit gehabt, sich auf die Tatsache einzustellen. In Anbetracht ihrer Persönlichkeit und ihres unternehmungslustigen Lebens musste es für sie eher schädlich als heilsam sein, wenn sie sich verkroch. Sie gehörte zu den Frauen, die unter Sinneseindrücken und Herausforderungen aufblühten. Wäre sie nicht Künstlerin gewesen, hätte Mac sie sich problemlos im Polizeiberuf vorstellen können, wo sie sein gesamtes Team mit ihrem Mut und ihrer Intelligenz in den Schatten gestellt hätte. Es wunderte Mac, dass sie sich selbst nicht so sah.
    „Diese Mobilitätstrainerin und die Therapeutin, ist eine von ihnen vielleicht blind?“, erkundigte sich Mac.
    „Nein.“
    An und für sich hatte das nichts zu bedeuten, trotzdem versetzte es ihn in Erstaunen. „Hat Natalie seit ihrer Erblindung überhaupt einmal mit einem Blinden gesprochen? Wissen Sie etwas darüber?“
    „Nicht dass ich wüsste. Und …“ Melissa zögerte.
    „Was denn?“
    „Ich habe den Eindruck, dass sie es im Grunde gar nicht will.
    Ich wollte sie dazu bewegen, in der hiesigen Blindenschule Unterricht in Blindenschrift zu nehmen, aber sie hat sich spontan geweigert. Ich glaube nicht, dass sie nur einfach ihr Haus nichtverlassen wollte. Soweit ich weiß, kennt sie außer ihrer Mutter niemanden, der blind ist.“
    Ihre Mutter. Daran hatte Mac einen Augenblick zu knacken. „Stimmt. Sie hat gesagt, dass ihre Krankheit erblich ist. Ihre Mutter war also blind?“
    „Ist blind.“
    Sie sprach so leise, dass Mac sie kaum hörte. Doch er hatte verstanden. „Sie lebt noch?“
    Nach allem, was sie ihm bisher schon verraten hatte, wirkte Melissa jetzt zum ersten Mal schuldbewusst. Und schien nicht noch mehr preisgeben zu wollen. „Wie auch immer.“
    Er warf ihr einen aufmunternden Blick zu. „Zu spät, um jetzt aufzuhören, Melissa. Ihre Mutter ist also blind. Na und? Haben die zwei sich entfremdet?“ Und hatte das etwas mit Natalies Reaktion auf seine Drohung zu tun, sie im Krankenhaus als nicht eigenständig hinzustellen?
    „Das geht nur Natalie etwas an. Ich habe genug gesagt, weil ich Ihnen helfen will, sie zu beschützen. Aber ihre Mutter hat mit diesen Dingen überhaupt nichts zu tun.“
    Melissas Vehemenz weckte in Mac lediglich den Wunsch, noch weiter in sie zu dringen. „Wie können Sie sich so sicher sein?“
    Sie antwortete nicht, doch es war auch nicht nötig.
    Also hatten sie sich entfremdet. So entfremdet, dass Natalie keinerlei Unterstützung bei der einzigen Person suchte, die all ihre Probleme nur zu gut kannte.
    Als Mac sich verabschiedete, fragte Melissa: „Darf ich Natalie dann morgen besuchen?“
    „Das ist Natalies Entscheidung. Aber ich habe nichts dagegen einzuwenden. Im Moment jedenfalls nicht.“
    „Ich weiß, dass ich Mist gebaut habe. Sie hat jemanden verdient, auf den sie sich verlassen kann, ob sie es nun weiß oder nicht, und schließlich wollte sie mir eine Chance geben. Ich hab’s vermasselt. Aber mein Freund und ich haben im Moment Probleme miteinander, und …“ Sie schloss kurz die Augen undschüttelte den Kopf. „Vergessen Sie’s. Keine Ausreden. Ich kann nur hoffen, dass sie mir eine zweite Chance gibt. Sie war nie der vertrauensselige Typ, wissen Sie? Dass Natalie jemanden näher an sich heranlässt, kommt selten vor und ist ein Privileg.“
    Mac verabschiedete sich nachdenklich und fragte sich, ob Melissa ihm etwas hatte sagen wollen. Wusste Melissa, dass er und Natalie sich geküsst hatten? Hatte er etwas Seltenes,

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