Hauchnah
Psychose. Als Natalie fünfzehn war, wurde ihre Mutter schließlich von den Behörden wegen Unzurechnungsfähigkeit in eine Anstalt eingewiesen. Einen Monat später wurde sie offiziell für geisteskrank erklärt.
Bis zu jenem schrecklichen Tag auf dem Bauernmarkt hatte Natalie sie Jahr für Jahr besucht, es war allerdings immer das Gleiche. Ihre Mutter starrte während ihres Besuchs blicklos ins Leere und erkannte nicht ein einziges Mal die Tochter, die ihr so verzweifelt etwas bedeuten wollte.
Die einzigen Menschen, die von Natalies Mutter überhaupt wussten, wenn auch nur die halbe Wahrheit, waren Melissa und Duncan. Obwohl Duncan nie etwas Derartiges geäußert hatte, so lag der Grund für seine Trennung von ihr zum Teil auch in seiner Befürchtung, sie würde von der gleichen Geisteskrankheit wie ihre Mutter befallen werden.
Er hatte sie ganz offensichtlich überhaupt nicht gekannt, denn sie würde es gar nicht erst so weit kommen lassen. Sie würde in die Tat umsetzen, was ihre Mutter immer wieder erfolglos versucht hatte. Sie würde sich umbringen.
Aber das war nicht notwendig. Noch nicht.
Natalie rollte sich zusammen, schluckte krampfhaft und ermahnte sich, nicht zusammenzubrechen. Zumindest nicht, solange Liz im Haus war. Nicht wenn ein Zusammenbruch zu weiteren Zusammenbrüchen führte, bis irgendwann nichts mehr von ihr übrig war.
Als Reverend Carter Morrison auf den Parkplatz der Kirche einbog, fuhr er an den vorderen Buchten vorbei um das Gebäude herum zu dem hinteren Platz, von dem aus die Mitarbeiterbüros leicht zu erreichen waren. Es war halb acht Uhr abends, und kein Mensch hielt sich auf dem Gelände auf, doch um acht Uhr kamen die Reinigungskräfte. Er würde sie knapp verpassen. Es würde keine Minute dauern, die Babydecke zu holen, die Shannon vergessen hatte, die Decke, die sich so weich anfühlte wieZuckerwatte. Sie war ein Geschenk von Shannons Vater, und Morrison wollte sie unbedingt bei sich haben, wenn sie ihn am nächsten Tag besuchten. Es sollte ihr letztes Treffen sein, bevor der Oberste Reverend Carter offiziell als seinen Nachfolger in dem von ihm errichteten Imperium ausrief. In dem Imperium, das er und Shannon pflegen und zu noch mehr Glanz und Ruhm führen sollten, bis es Zeit war, es ihrem Sohn zu übergeben.
Ihr Sohn.
Er konnte immer noch nicht fassen, dass er einen Sohn hatte. Nach all den Jahren der Fruchtbarkeitsbehandlungen und vergeblichen Hoffnungen und niederschmetternden Enttäuschungen hatten er und Shannon nicht mehr an einen Erfolg geglaubt. Aber schließlich hatte Gott ihre Gebete erhört und ihnen nicht nur das ersehnte Kind geschenkt, sondern damit auch den Schlüssel zum Aufbau seines Lebenswerkes.
Dieses Wissen machte Shannon unersättlich. Nachdem sie ihn monatelang aus ihrem Bett verbannt hatte, wandte sie sich ihm zu. Und ließ sich sogar von ihm dominieren.
Als sie hinter ihn getreten war und angefangen hatte, ihn zu streicheln, hatte es ihn zuerst angewidert. Doch dann konnte er nicht anders – er reagierte auf ihre aufreizenden Zärtlichkeiten. Und dann hatte sie ihn tatsächlich aufgefordert, sie zu ficken, und es hatte ihm gefallen, das Wort aus dem Mund seiner anständigen kleinen Frau zu hören. Er hatte Dinge mit ihr getan, die sie ihm vorher nie gestattet hatte. Und er hatte etwas gespürt, das er lange Zeit vermisst hatte.
Ihre Achtung und Anerkennung.
Nicht dass er sich beides noch wünschte, dass seine Frau ihm allerdings diese Gefühle entgegenbrachte, war befreiend. Berauschend. Dadurch wurde es erträglicher, noch ein wenig länger mit ihr leben zu müssen. Er brauchte sie noch, und er hatte sie hart genommen und würde es wieder tun, und trotzdem empfand er jetzt nur noch Abscheu vor ihr.
Er war ihr gegenüber zu unterwürfig gewesen, wie er endlich erkennen musste. Sie war eine starke Frau und brauchte seineStärke als Gegenleistung. Die würde er ihr geben, verdammt noch mal. Er würde sie bestrafen für all die Jahre, in denen sie ihn gequält hatte, und sei es nur in seiner Vorstellung.
Zu seiner Überraschung stand bereits ein Wagen neben der Kirche, ein zerbeulter alter Mazda mit trübe leuchtenden Scheinwerfern. Sie flackerten, als würde die Batterie in Kürze den Geist aufgeben. Er erkannte das Fahrzeug auf Anhieb. Es gehörte Alex Hanes, einem Mitglied der Kirche, der sich ihr im Rahmen des Haftentlassenenprogramms angeschlossen hatte. Carter zögerte, dann sah er, wie sich in dem Auto ein Schatten bewegte.
Idiot.
Er
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