Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Hauchnah

Hauchnah

Titel: Hauchnah Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Virna Depaul
Vom Netzwerk:
auf sie ein.
    In diesem Moment begriff sie.
    Genau das war es, was Mac ihr hatte sagen wollen. Dass sie blind war, spielte keine Rolle. Selbst wenn sie uneingeschränkt hätte sehen können, wäre es eine große Dummheit gewesen, einem Mann die Stirn bieten zu wollen, der eine unschuldige Frau kaltblütig überfahren konnte.
    So oft im Leben hatte sie dem Schicksal und dem Tod eine Nase gedreht, dass sie sich selbst mit der Zeit gewissermaßen als übermenschlich betrachtet hatte. Blind oder nicht, sie war auchnur ein Mensch. Ein Mensch, der nicht wie Mac dazu ausgebildet war, Kriminellen das Handwerk zu legen.
    Er hatte recht; sie durfte sich nicht in seine Ermittlungsarbeit einmischen.
    Überlass das den Profis.
    Mehr konnte sie im Grunde wirklich nicht tun.
    Aber vielleicht …
    Vielleicht konnte sie doch noch etwas für ihre Freundin tun. Etwas, das womöglich genauso wichtig war.
    „Verzeihung“, sagte sie. Sie saß direkt neben dem Aufnahmeschalter, wo sie Melissas persönliche Daten durchgegeben hatte.
    „Ja?“
    „Verfügt das Krankenhaus über eine Kapelle?“
    „Auf der anderen Straßenseite beim Altbau. Dort sind jetzt nur noch die Büroräume untergebracht. Sie sind alle geschlossen, aber die Kapelle dürfte geöffnet sein.“
    „Könnte mich vielleicht jemand hinführen?“
    „Ich höre mich um, aber es könnte ein paar Minuten dauern.“
    Zwanzig Minuten später wurde Natalie von einer Schwester auf die andere Straßenseite zur Kapelle geleitet. Kaum war sie eingetreten, überkam sie ein lange nicht erlebtes Gefühl von Frieden. Es war kühl in der Kapelle. Die Stille war wie eine tröstliche Umarmung. Farben konnte sie nicht erkennen, doch sie stellte sich flackernde Kerzen und Glasgemälde an den Wänden vor.
    Sie hörte gedämpfte Stimmen, als mehrere Personen die Kapelle betraten. Ein Kleinkind plapperte laut, eine Frau ermahnte es auf Spanisch, still zu sein. Natalie spürte, wie die Leute sich an ihr vorbeidrängten.
    „Ich sehe jetzt nach Ihrer Freundin und komme dann zurück, ja?“, schlug die Schwester vor.
    „Danke. Das wäre nett.“ Natalie tastete sich in eine Kirchenbank und setzte sich. Irgendwo links von ihr wurde geflüstert. Das Kleinkind lachte, und die übersprudelnden Laute entlockten Natalie ein Lächeln. Sie legte die gefalteten Hände auf die Rückenlehne der Bank vor sich und senkte den Kopf.
    Bitte, betete sie still. Bitte gib, dass Melissa wieder gesund wird. Und beschütze auch Mac.
    Beinahe auf Anhieb erkannte sie den Widerspruch, der in ihrem Gebet angelegt war. Mac übte seinen Beruf aus, und es war ein gefährlicher Beruf. Um einen Mörder aufzuhalten, musste er bereit sein, sich selbst in Gefahr zu begeben. Sie wusste, dass sie ihn in dieser Hinsicht nicht ändern würde. Er war mit Leib und Seele Polizist, so wie sie Fotografin war. Sonst würde ein Teil seiner Persönlichkeit fehlen.
    Doch weil er ihr viel bedeutete, wollte sie ihn auch in Sicherheit wissen. Sie wollte sein sicherer Hafen sein, wenn seine Arbeit getan war und er einfach nur Mann und nicht Polizist sein konnte.
    Ähnliches wollte er auch für sie. Deshalb war er so ärgerlich, so erschrocken, als sie vorschlug, sich in die Kirchengemeinde einzuschleichen. Er wusste schließlich, dass sie für solche Aufgaben nicht ausgebildet war. Letztendlich spielte es keine Rolle, ob sie sehen konnte oder nicht.
    Du kannst mich sehen. Du kannst mich besser sehen als die meisten anderen, hatte er gesagt.
    Und es stimmte.
    Doch das Gleiche galt umgekehrt für ihn.
    Er hatte sie gesehen. Wie verängstigt und wütend und einsam sie gewesen war. Wie sehr sie fürchtete, wie ihre Mutter zu sein, nicht nur in der Dunkelheit, sondern auch in der Geisteskrankheit verloren. Und doch hatte er auch ihre Stärke und ihre Schönheit gesehen.
    Ob sie auch noch den Rest ihrer Sehkraft verlor oder nicht, ob sie und Mac sich schließlich einig wurden oder nicht, sie würde zurechtkommen.
    Sie war nicht wie ihre Mutter. Ja, sie hatte zugelassen, dass ihre zunehmende Blindheit ihr den Kopf verdrehte, aber sie hatte nicht den Kopf verloren. Sie hatte Fehler begangen, war aber nicht so sehr zum Opfer geworden, dass sie anderen wehtat. So weit würde es nie kommen.
    Es war still geworden in der Kapelle. Natalie hörte nichts mehr von dem Kind und seiner Familie. Sie war so in ihre Gedanken versunken gewesen, dass sie nicht bemerkt hatte, wie sie gegangen und ob andere gekommen waren.
    Die Schwester hatte angeboten,

Weitere Kostenlose Bücher