Hauchnah
es nicht getötet. Natürlich nicht. Nie im Leben würde ich meinen eigenen Sohn töten. Nicht wenn ich ihn meiner unfruchtbaren Frau geben und als Gegenleistung alles von ihr und ihrem Vater haben kann, was sie mir bisher vorenthalten haben.“
Natalie wich weiter zurück. Sie hatte keine Ahnung, wo sie sich befand. Aber hatte die Schwester nicht gesagt, in diesem Gebäude befänden sich nur noch Büros? Geschlossene Büros.
Damit war sie völlig allein mit einem Verrückten.
Schon als sie noch etwas sehen konnte, hatte sie sich angewöhnt,sich den Weg zu merken, den sie zurücklegte. Das hatte sie auch jetzt getan. Sie waren vom Kapelleneingang aus etwa fünfundsiebzig Meter weit gegangen. Er war dreimal abgebogen – einmal links und zweimal rechts.
Sie wirbelte herum und rannte los, eine Hand an der Wand.
Er lachte rau. „Wohin willst du denn?“
Mehrmals stieß sie auf Hindernisse, lief aber immer weiter. Er folgte ihr auf den Fersen; seine Schritte hallten schwer und bedrohlich. Natalie trieb sich an, bog einige Male ab und fasste Mut, als sie den Mann nicht mehr hinter sich hörte.
Nach einer weiteren Abbiegung hielt sie an und rang nach Luft.
Jetzt lachte der Mann nicht mehr. „Komm her und lass uns ein Ende machen, meine Liebe.“
Sofort setzte Natalie sich wieder in Bewegung. Seine Stimme war deutlich zu hören, allerdings aus einiger Entfernung. Sie klang müde. Sein Atem ging mühsam.
Um nicht zu verraten, wo sie sich befand, versagte sie sich eine scharfe Antwort, fürchtete jedoch, dass er ihre unsicheren Schritte ohnehin hörte. Sie trieb sich an, weiter in dieselbe Richtung zu laufen, bis sie schließlich in einer Sackgasse ankam. Verzweifelt tastete sie die Wand ab und fand eine Tür. Sie versuchte sie zu öffnen, doch sie war abgeschlossen. Das Gleiche galt für die Tür direkt daneben. Sie stieß einen klagenden Laut aus.
Da hörte sie ihn wieder. Er kam näher. Sie blieb in Bewegung. Tastete die Wand ab. Versuchte jede Tür zu öffnen, auf die sie stieß. Sie glaubte, seinen Atem bereits im Nacken zu spüren, als sich endlich eine Tür öffnen ließ. Sie taumelte in den Raum, lief ein paar Schritte und stieß sofort gegen etwas Niedriges, Hartes.
Sie fuhr zusammen, als mehrere Gegenstände zu Boden fielen. Der Lärm führt ihn problemlos hierher, schoss es ihr durch den Kopf. Einen Augenblick lang hätte sie sich am liebsten auf den Boden gehockt. Sich die Ohren zugehalten und in einer Ecke versteckt wie damals, wenn ihre Mutter sie in den Schrank gesperrt hatte. Doch sie wusste, dass ihr Verfolger noch erbarmungsloser als ihre Mutter sein würde.
Deshalb würde sie sich nicht verstecken.
Sie streckte die Hände nach vorn und ertastete eine glatte Oberfläche. Ein Tisch. Vielleicht ein Schreibtisch. Sie strich an den Kanten entlang. Da war ein Telefon. Ein Becher mit Kulis und Bleistiften, den sie umwarf. Ein Tacker. Sie schnappte nach Luft, als etwas Kaltes, Spitzes ihr in die Finger stach. Sie hob den Gegenstand auf und befühlte ihn aufmerksam. Eine Schere.
Sie schwang sie wie eine Waffe in die Richtung, in der sie die Tür zum Flur vermutete. Schatten huschten, als die Tür sich öffnete und der Mann ins Zimmer trat.
„Ich wollte es kurz und schmerzlos erledigen“, presste er zwischen heftigen Atemstößen hervor, „aber du machst mich wirklich wütend, Natalie. Hast du geglaubt, du könntest mir entkommen? Obwohl du blind bist? Ihr Frauen seid doch alle gleich. Du und Lindsay und Shannon. Ihr müsst lernen, wo euer Platz auf der Welt ist. Auf den Knien.“
Hinter ihr krachte es, und sie fuhr zusammen. Er hatte mit einem Gegenstand geworfen, absichtlich, um sie einzuschüchtern.
„Kennst du das Evangelium nach Matthäus, Natalie? Der Vers 18,9 gefällt mir besonders. Soll ich ihn für dich zitieren?“
„Fahr doch lieber zur Hölle!“ Sie stieß mit der Schere zu, obwohl sie keine Ahnung hatte, wie nah er war. „Bleib mir vom Leibe.“
„Vers 18,9 lautet: ‚Und so dich dein Auge zum Bösen ärgert, reiß es aus und wirf’s von dir. Es ist besser, dass du einäugig zum Leben eingehest, denn dass du zwei Augen habest und wirst in das höllische Feuer geworfen.‘ Gott hat dir das Augenlicht genommen, weil du Ihn erzürnt hast, Natalie. Jetzt hast du mich erzürnt, und ich nehme dir das Leben.“
Er schleuderte etwas mit aller Macht in eine Zimmerecke, dann noch etwas. Jedes Mal zuckte Natalie zusammen. Ihre Hilflosigkeit steigerte ihre Panik ins Unermessliche.
Weitere Kostenlose Bücher