Hauchnah
Kostbares, das Privileg, ihr nahe sein zu dürfen, einfach mutwillig angenommen und vergeudet?
Auch wenn es für den Fall nicht von Belang war, musste er doch seine Neugier über Natalies Mutter befriedigen. Zunächst jedoch rief er Jase auf seinem Handy an. „Die Freundin deiner Schwester. Die Blinde. Wo wohnt sie?“
20. KAPITEL
W ieder zu Hause angekommen, verabschiedete Natalie sich sofort von Liz. Normalerweise legte sie sich tagsüber nie für ein Nickerchen hin, doch im Augenblick hatte sie keinen sehnlicheren Wunsch. Kaum lag sie im Bett, setzte zu ihrer Verwunderung ein leichtes Zittern in den Händen ein, das sich nach und nach auf ihren ganzen Körper ausdehnte. Ihr wurde kalt bis in die Knochen, was das Zittern noch verstärkte. In Panik blickte sie auf die Zimmertür, die sie zugezogen, aber nicht abgeschlossen hatte. Liz saß am Küchentisch und bearbeitete irgendwelche Akten. Natalie versuchte sich aufzurichten und aufzustehen, damit sie die Tür abschließen konnte, aber ihre Beine gehorchten ihr nicht.
Es war, als hätten die Ereignisse der letzten paar Monate oder Jahre sie schließlich doch eingeholt, um ihr Kraft, Entschlossenheit und Zielstrebigkeit zu rauben. Als hätte ihr Versuch, sich zu entspannen und ihr Schneckenhaus zu verlassen, und sei es nur für wenige Minuten, Tür und Tor geöffnet für frische wie auch alte Erinnerungen, für Erinnerungen an Menschen und Ereignisse, die sie vernichten sollten. Noch schlimmer: Es waren Erinnerungen an ihre Mutter, die sie am übelsten heimsuchten.
Katrina Butcher war immer eine gefühlskalte Frau gewesen, als Natalies Vater allerdings kurz nach dem achten Geburtstag der Kleinen gestorben war, setzten die Misshandlungen ein. Zuerst putzte die Mutter Natalie nur verbal herunter oder flippte wegen jeder Kleinigkeit aus. Dann folgte die gelegentliche Ohrfeige. Am schlimmsten war es, wenn Natalie, die von jeher große Angst vor Dunkelheit hatte, Schläge bekam und dann auf dem Dachboden in einen Schrank gesperrt wurde. Jedes Mal bemühte sie sich, still zu sein, und biss sich auf die Unterlippe, bis sie Blut schmeckte, denn sie wusste, dass ihre Mutter die Strafe verschärfen würde, wenn Natalie nach ihr rief. Aber irgendwann stellte sie sich vor, dass etwas aus der Dunkelheit kam und sie holen wollte, etwas noch Furchterregenderes als ihre Mutter,und dann fing sie an zu schreien und konnte erst aufhören, wenn ihre Stimme versagte.
Natalie redete sich ein, ihre Mutter würde einfach nicht mit dem Schmerz über den Tod ihres Mannes fertigwerden. Dass sie jemanden brauchte, an dem sie ihren Zorn abreagieren konnte. Dass es nicht gegen sie persönlich gerichtet war.
Als sie zwölf Jahre alt war, wusste sie schließlich, dass es doch persönlich gemeint war.
In jenem Jahr verlor ihre Mutter ganz plötzlich beinahe komplett das Augenlicht. Natalie hatte nicht gewusst, dass die Sehkraft ihrer Mutter im Lauf der Jahre immer stärker nachgelassen hatte und sie schon immer Natalie für den Ausbruch ihrer Augenkrankheit verantwortlich gemacht hatte. Obwohl die Ärzte das nicht bestätigten, waren nach Meinung ihrer Mutter die Anstrengungen von Schwangerschaft und Geburt der Auslöser für die latente Schädigung, die ihr dann Jahre später das Augenlicht komplett genommen hatten. Die sie nicht nur in ihrem Alltagsleben behinderte, sondern auch ihren Traum von einer ruhmreichen Karriere als Malerin zerstörte.
Von alledem hatte Natalie nichts geahnt, noch nicht einmal, dass ihre Mutter Künstlerin war. Als die Augenkrankheit voranschritt, hatte ihre Mutter sämtliches Malzubehör weggeräumt, auf jenen Dachboden, wo auch der schreckliche Schrank stand.
Natalies Arglosigkeit wurde nach einer besonders heftigen Züchtigung zerstört. Nachdem ihre Mutter sie in den Schrank gestoßen hatte, begann dieses Mal ihre Mutter zu schreien. Sie hämmerte von außen an die Schranktür und zählte schreiend alles auf, was sie wegen Natalie verloren hatte. Ihre Mutter hasste sie. Wünschte, Natalie wäre nie geboren. Wünschte, Natalie wäre tot.
Innerhalb weniger Monate war ihre Mutter dann völlig erblindet. Auch da hatte Natalie sie nicht im Stich gelassen. Sie war Tag für Tag bei ihr und ließ sie ihre Liebe spüren. Trotz allem, was sie ihr angetan hatte, wollte Natalie ihr beweisen, dass sie es wert war, ebenfalls geliebt zu werden. Doch darauf wartete sie vergeblich.
Ihre Mutter versank in Depressionen und eine von häufigen Selbstmordversuchen begleitete
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