Hauchnah
Merkwürdiges, das ihre Aufmerksamkeit von dem ungewöhnlich aussehenden Pärchen abgezogen hatte. Etwas über Blindheit? Heuchelei? Zugegeben, Pete gab manchmal eine Menge Unsinn von sich, doch er war durchaus auch zu klaren Gedanken fähig. Wenn er den Mann und die Frau nun tatsächlich gekannt hatte? Wenn die Dunkelhaarige Lindsay gewesen war, das dunkelhaarige Mädchen, das Mac auf Natalies Fotos identifiziert hatte?
Jemand setzte sich neben Natalie auf die Bank. Sie wandte sich der schattenhaften Gestalt zu und blinzelte. „Liz? Mir ist gerade etwas eingefallen. Nichts Großartiges, aber trotzdem könnte es Mac auf die Sprünge helfen.“
„Mac?“
Es war nicht Liz’ Stimme, und es war eindeutig keine Frauenstimme. Unverzüglich setzte Panik ein. „W…wer sind Sie?“
„Wer sind Sie?“, antwortete der Mann, und aufgrund ihrer Panik überhörte sie seinen neckischen Tonfall. Sie spürte die Bewegung, kurz bevor er mit einer Hand ihr Gesicht berührte.
Sie reagierte spontan, schrie und packte seine Hand, als er ihrHaar berührte. Sie umklammerte seine Finger und bog sie zurück. Im gleichen Moment hörte sie Liz rufen: „Hey, was soll das? Lassen Sie sie in Ruhe!“
Der Mann brüllte und versuchte sich loszureißen, doch Natalie griff nur noch fester zu. Gleichzeitig stand sie auf und versuchte ihn zu treten. Doch sie war ihm zu nahe, um Schaden anrichten zu können. „Finger weg“, schrie sie. „Lassen Sie mich in Ruhe!“
„Natalie, ich bin bei dir. Lass ihn los. Sofort!“
Als sie Liz’ Stimme hörte, löste Natalie abrupt ihren Griff und wich vor dem Mann zurück.
„Dämliches Miststück! Was soll das, verdammt noch mal?“
„Was zum Teufel haben Sie mit ihr gemacht?“, fragte Liz aggressiv.
„Nichts! Ich habe mich neben sie gesetzt. Der Wind hat ihr das Haar ins Gesicht geweht, und ich habe es ihr aus den Augen gewischt.“
„Sie ist blind! Das Haar vor ihren Augen stört sie nicht.“
„Blind? Verdammt, das wusste ich doch nicht. Sie sieht ganz normal aus.“
„Weg hier. Auf der Stelle.“
Natalie hörte, wie der Mann sich leise schimpfend entfernte. Seine Worte klangen in ihr nach. Das Wort „dämlich“ hatte er benutzt.
Dämlich. Nicht normal. Für einen Moment hatte sie vergessen, dass die Menschen sie so sahen.
Sie rührte sich nicht. Stand wie erstarrt genau da, wo sie aufgesprungen war.
„Tut mir leid, Natalie. Ich war nur etwa fünf Meter von dir entfernt. Beim Reden bin ich auf und ab gegangen, und als ich mich umdrehte, saß er schon neben dir. Ich bin sofort zu dir gekommen, aber es war zu spät. Tut mir leid.“
„Schon … schon gut, Liz. Ehrlich. Können wir jetzt gehen?“
„Aber möchtest du nicht noch ein bisschen spazieren gehen? Mehr Fotos machen?“
„Eigentlich nicht. Ich bin wirklich müde. Ich möchte am liebsten nach Hause.“
Melissa Callahan war hübsch. Mit ihrem hellbraunen Haar sah sie sogar Natalie ein wenig ähnlich, trotz der blau gefärbten Strähne. Sie hatten etwa die gleiche Größe und den gleichen Teint, doch damit hörten die Ähnlichkeiten auch schon auf. Melissa war lieb, ein bisschen naiv und ziemlich gutgläubig – und Mac bezweifelte, dass Natalie je eine dieser Eigenschaften besessen hatte, nicht einmal als Kind.
Sie hatte tatsächlich in einem Stau gestanden, als Natalie auf sie gewartet und dann zu dem Mörder ins Taxi gestiegen war. Mac begriff rasch, dass sie genauso war, wie Natalie sie charakterisiert hatte. Sie war eine gute Freundin, wenn auch ein wenig unzuverlässig, hätte Natalie aber nie im Stich gelassen, damit ein Mörder sie in seine Gewalt bringen konnte. Aus dem Gespräch mit ihr ging eindeutig hervor, dass Natalie ihr viel bedeutete und sie schwer betroffen von dem Vorfall war. Genau genommen war es wahrscheinlich sogar ihr Schuldbewusstsein, das sie veranlasste, im Verlauf ihres Gesprächs unaufgefordert so viel über Natalies Privatleben preiszugeben.
Doch Mac war nicht gewillt, sie daran zu hindern. Natalie wäre bestimmt empört über die Offenherzigkeit ihrer Freundin gewesen. Und trotzdem hatte Mac sich Melissas Angst um Natalie zunutze gemacht, um alles über sie zu erfahren. Normalerweise machte er sich keine Gedanken über eine solche Vorgehensweise und war nun umso überraschter, als sich Gewissensbisse bei ihm einstellten.
Er tat lediglich seine Arbeit. So viel wie möglich über Natalie zu erfahren war unabdingbar, um sie zu schützen, insbesondere angesichts ihrer ungewöhnlichen
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