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Hauchnah

Hauchnah

Titel: Hauchnah Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Virna Depaul
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nicht gemacht. Ich weiß aus Erfahrung, dass meine Mutter keine leeren Drohungen ausstößt.“
    „Judo?“ Natalie hatte gehört, dass Judo als Blindensport geeignet war, allerdings hatte sie angenommen, das gelte für Profisportler mit Übung in anderen Kampfsportarten, aber nicht für die Durchschnittsfrau ohne vorheriges Training. Die Durchschnittsfrau war eher wie ihre eigene Mutter. Schwächer. Oder?
    „Ja. Wenn du Interesse hast, mit ihr darüber zu reden, lass es mich wissen.“
    „Das … das mache ich. Danke.“
    „Wir sind da.“
    Natalie wusste, noch bevor Liz es aussprach, dass sie ihr Ziel erreicht hatten. Sie konnte die Rosen riechen, die den Pavillon umgaben; der süße Duft war so überwältigend, dass sie hätte schwören mögen, mitten unter ihnen zu stehen und nicht auf dem asphaltierten Gehweg. Sie dachte an die Farbenpracht der Blüten, als sie noch sehen konnte – eine schäumende Explosion in Weiß und Rosa, Pfirsich und Rot, Pflaumenblau und Orange, vermischt mit dunklem, glänzendem Grün. Eine chaotische Farbpalette, die trotzdem wohlüberlegt erschien und immer atemberaubend schön war.
    Sie hatte ein paar Aufnahmen von den Rosen gemacht, vom Pavillon nebenan und … was dann? Ach ja, ein Zauberer! Das war ihr im Krankenhaus wieder eingefallen. Eine Nahaufnahme von einem Zauberer, der Kartentricks vorführte, wenn er nicht gerade aus Luftballons Tiere für die Kinder drehte. Und dann hatte sie den Weg in östliche Richtung eingeschlagen.
    „Gehen wir nach Osten. Zu den Mammutbäumen. Siehst du sie?“
    „Aber sicher. Wolltest du nicht vorher noch ein Foto schießen?“
    „Ja, richtig. Ja.“ Sie hob die Kamera, blickte in den Sucher und atmete tief durch. Genauso wie bei der Sitzung mit Melissa erkannte sie verschwommene graue Schatten, konnte sich aber irgendwie auch die Form einzelner Rosen vorstellen. Sie wusste, es war teilweise Erinnerung und teilweise ihr Bewusstsein, das ihr Streiche spielte, doch es war ihr egal. Sie fotografierte, und als sie die Kamera senkte, lag ein Lächeln auf ihren Lippen.
    „Gehen wir.“
    Plaudernd gingen die beiden Frauen weiter. Natalie blieb hin und wieder stehen, um eine Aufnahme zu machen, während sie versuchte, sich an Gesehenes, Gehörtes, Gerochenes, Ertastetes oder Geschmecktes vor zwei Monaten zu erinnern. Bald jedoch hörte sie, ohne es zu merken, auf, sich zu erinnern und genoss einfach nur den Spaziergang.
    „Hier. Hier müsste unter einer mächtigen Eiche eine Bank stehen. Siehst du sie?“
    „Ja.“
    „Ich möchte mich für einen Moment dorthin setzen. Von dort hat man einen tollen Ausblick auf einen Spielplatz auf der einen und einen Brunnen auf der anderen Seite. Ich weiß noch, als …“
    Ein Klingeln unterbrach sie. „Entschuldige“, sagte Liz. „Das ist mein Handy. Ich bringe dich zu dieser Bank und kümmere mich dann um den Anruf.“
    „Gut.“
    Als Natalie Platz genommen hatte, nahm Liz den Anruf an. „Officer Lafayette. Ja, Captain, sie ist bei mir. Der Fall Turner? Ich habe bereits mit der Mutter gesprochen, Sir. Ja, ich habe ihr gesagt …“
    Während Liz sprach, schloss Natalie die Augen und hob ihr Gesicht der Sonne entgegen. Es war ein milder Tag mit einer leichten Brise, doch allein schon die laue Wärme auf ihrem Gesicht, vermischt mit den frischen Düften um sie herum, erfüllte sie mit einer ungewöhnlichen Zufriedenheit. Ihr war noch nichts Brauchbares eingefallen, doch immerhin hatte ihr Verstand nicht diese entsetzlichen Augenblicke Revue passieren lassen, als sieihre Sehkraft verlor. Jetzt war es so friedlich, beinahe schon zu ruhig. Sie fragte sich, wie es wäre, inmitten einer Menschenmenge zu sitzen. Gut aufgehoben auf ihrer Bank, aber nahe genug am Geschehen, um Hunde bellen, Kinder spielen, den alten Pete mit einem vorübergehenden Pärchen schimpfen zu hören …
    Natalie stockte der Atem. Der alte Pete!
    Er hatte an jenem Tag herumgebrüllt. Und er hatte einen Mann und eine Frau angebrüllt, bevor die Polizei ihn abführte. Eine Frau mit dunkler Igelfrisur und einen Mann mit säuberlich geschnittenem grauem Haar. Natalie erinnerte sich. Die beiden gingen miteinander um wie ein Pärchen, doch der Kontrast in Haarfarben und Körpergröße ließ sie eher wie Vater und Tochter erscheinen statt wie Verliebte. Und etwas an der Haltung der Frau war ihr merkwürdig erschienen. Hatte sie verwirrt …
    Sie war sich sicher. Die Erinnerung war klar und deutlich.
    Aber was hatte Pete gebrüllt? Etwas

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