Hauptsache nichts mit Menschen (German Edition)
Christian sind geschwätzige Bastarde«, denke ich. Anna-Lena legt unterdessen mit einer fast pathologischen Neugier den Weddinger in mir frei oder versucht vielmehr, Dinge in mir zu finden, die auf ihre Definition eines Weddingers zutreffen könnten.
Nach ein paar Minuten sieht man vor lauter Leuten den eigenen Verstand nicht mehr vor Augen. Da stehen sie jetzt um uns herum: ein Dutzend H&M-Individualisten. Es dauert nicht lange, bis die Ersten in unsere Unterhaltung einsteigen und anfangen zu erzählen: Von irgendeiner Steffi, die mal im Wedding gewohnt hat, von einem Loft in der Soldiner Straße, wie günstig die Mieten sind und wie »erfrischend« proletarisch die Bevölkerung. Ein Typ namens Jonas will wissen, was der Quadratmeter Miete kostet, und weil ich alles andere als gut im Kopfrechnen bin, stammle ich etwas von 59 Cent. Kurzzeitig ist man aus dem Häuschen. Dann muss ich mich korrigieren: »Ich zahle 380 warm«, sage ich. Die Stimmung sinkt zurück auf null. »Und wie groß ist deine Wohnung?«, fragt Jonas. »69 Quadratmeter«, sage ich und wieder ist man aus dem Häuschen: Geraune, Gebrabbel, Gefriedrichshaine.
»Ich habe mir in der Pankstraße mal eine Wohnung in einem besetzten Haus angeschaut«, dringt es aus der zweiten Reihe. Wie viele Mojitos man wohl trinken muss, um der ernsthaften Überzeugung zu sein, es gäbe in der Pankstraße besetzte Häuser. Von wem denn bitte? Einer anatolischlesbischen Kommune 1?
Das Interesse an meiner Person oder dem, was ich seit 20 Minuten zu vertreten gezwungen werde, wird immer größer. »Der Wedding kommt ja auch!«, wirft Anna-Lena ein. Jeder, der im Wedding wohnt, wird es für wesentlich wahrscheinlicher halten, dass alle 80.000 Weddinger in ihrer Gesamtheit einen Orgasmus erleben, als jemals Bewohner eines In-Bezirks zu werden. Allmählich nehmen die Gespräche über meine Wahlheimat ein beunruhigendes Maß an Ernsthaftigkeit an. Ich habe ein wenig Sorge davor, dass Anna-Lena und Jonas nach dem nächsten Mojito übereinander herfallen, kopulieren und mit ihren frisch gebackenen Kleinfamilien aus Thorbens, Lottes und Annikas in den Wedding ziehen möchten.
»Vielleicht werdet ihr ja der neue Friedrichshain«, sagt Jonas und ich lache. Ich lache laut auf, als gäbe es keinen abwegigeren Gedanken und ein bisschen, als hinge mein Leben davon ab. Aber sie durchschauen mich. Ihre Designerblicke erkennen das schwitzige Glitzern auf meiner Stirn, den angsterfüllten Ausdruck in meinen Augen. Und ich habe Angst. Panische Angst! Um den Typen, der einem immer Gras andrehen will, während er in unseren Hausflur pinkelt; um meinen Hauswart, der nur grüßt, wenn er morgens besoffen aus dem »See-Tank« stolpert; um den Libanesen von gegenüber, bei dem ich mich nicht traue einzukaufen; meine Nachbarn, die jeden Klingelton als Maxi-Single haben, und um »Fränkels Fleischimbiss« in der Müllerhalle, bei dem man zu jede Bulette einen Stamm Colibakterien gratis dazubekommt. Ich habe Angst, dass die Kinder in meinem Hof nicht mehr mit Schnee, Scheiße und Müll nach einem werfen, sondern kleine Arierkinder mich im Vorübergehen um etwas Mehl und Zucker bitten, weil sie im neuen Kinderladen um die Ecke einen Toleranzkuchen backen möchten. Ich habe Angst, dass im Töpferladen in meiner Straße ein Zentrum für multikulturelle Verständigung aufmacht und Tante Elli ihre Kneipe in Ella umbenennt und nur noch ayurvedische Küche aus der südlichen Bretagne anbietet, dass im alten Möbelladen an der Ecke ein Deli aufmacht, ich im Kiosk gegenüber nur noch die Neon, Spex und Bionade bekomme und die Lüderitzstraße die verdammte neue Simon-Dach-Straße wird.
»Ach!«, sage ich. »Meiner Meinung nach wird der Wedding ohnehin überschätzt. Diese beharrliche Erwartung eines umbrechenden urban-kulturellen Aufstiegs hat seit der Berliner Bezirksreform doch überhaupt keinen Wert mehr. Seitdem wir zu Mitte gehören, ist es doch schleichend schon fast ein bisschen pastellig geworden.« Ratloses Schweigen. »Was meinst du denn mit ›pastellig‹?«, will Anna-Lena wissen. »So kontrastlos eben! Diese Galerie in der Schererstraße, das Yogazentrum in der Togostraße, die neue Shisha-Bar in der Brüsseler, die Lesebühne in der Oudenarder, überall Sushi, Latte Macchiato und Club-Mate, und in der Kameruner Straße gibt es sogar einen Bio-Supermarkt.«
Auf einmal steht Anna-Lena wieder ganz alleine neben mir. Hospitalistisch nickt sie mir zu, schaut umher und nippt beharrlich an
Weitere Kostenlose Bücher