Haus der Erinnerungen
ist, Großvater?« Immer noch bewegte er die Lippen und versuchte unter großer Anstrengung ein Wort zu bilden. Während er kämpfte, sah ich, wie eine Träne sich aus seinem Augenwinkel löste und auf das Kopfkissen rollte.
Plötzlich leuchtete in seinen Augen, die auf einen Punkt zwischen dem Bett und der Zimmerdecke gerichtet waren, ein seltsames Licht auf. Ich hatte den Eindruck, daß er etwas sah. Seine Lippen zuckten und sein Kinn bebte, aber das Wort wollte sich nicht formen. »Was willst du sagen, Großvater?«
Er versuchte den Kopf zu heben, den Blick jetzt auf etwas gerichtet, das über seinem Bett zu schweben schien. Dann zuckte etwas wie ein Lächeln über seine Lippen, und er sagte mit ganz normaler Stimme: »Vater!« Da wußte ich, was mein Großvater sah. Er starb im selben Moment. Er starb mit diesem Lächeln auf dem Gesicht.
Meinen Verwandten habe ich nie erzählt, was ich in dem Haus in der George Street erlebt habe. Es war ihnen nicht bestimmt, davon zu wissen. Doch eben diese Erlebnisse brachten mich ihnen näher, ließen mich erkennen, daß meine Tante und mein Onkel, meine Cousinen und mein Vetter genau wie meine Mutter und ich Victor Townsends Erbe in sich trugen. Ich konnte diese Menschen lieben, die für mich zu Beginn meines Aufenthalts nichts weiter gewesen waren als Fremde mit einer merkwürdigen Sprache und seltsamen Gebräuchen.
Am folgenden Sonntag fuhren wir nach Morecambe Bay, und ich lernte meine anderen Verwandten kennen, die jüngere Generation. Ich habe selten einen so schönen vergnügten Tag erlebt. Ich fand es interessant und aufregend, diese Menschen kennenzulernen, Victors Nachkommen wie ich, und es fiel mir nicht schwer, sie liebzugewinnen. Wir hatten ja etwas gemeinsam, das stärker war als rein zufällige Freundschaft und Sympathie.
Am Tag meiner Abreise sagte meine Großmutter zu mir: »Du mußt meinetwegen nicht traurig sein, Kind, jetzt, wo dein Großvater tot ist. Wir haben zweiundsechzig wunderbare Jahre miteinander verbracht, er und ich, und um nichts in der Welt würde ich sie hergeben. Ich hätte mir keinen besseren Mann wünschen können. Soll ich dir mal etwas sagen: Es ist gar nicht schwer, alt zu werden, wenn man an Gott und ein Weiterleben nach dem Tod glaubt. Weißt du, Kind, ich glaube, daß meine dreiundachtzig Jahre auf dieser Erde nur eine Art Anfang von dem waren, was noch vor mir liegt. Ein modernes junges Ding wie du wird das vielleicht für albern halten, aber ich bin fest überzeugt, daß ich deinen Großvater wiedersehen werde, wenn ich gestorben bin. Wir werden wieder zusammenkommen, denn etwas so Einfaches wie der Tod kann uns nicht trennen. Dazu waren wir hier auf Erden viel zu lange zusammen. Wir werden weiter zusammenbleiben, dein Großvater und ich, und ich gehe ohne Angst dem Tod entgegen.«
Bevor ich ging, machte sie mir noch ein Geschenk. Es war die in Leder gebundene Ausgabe des Buches She, die ich mir Wochen zuvor angesehen hatte. Während ich es in der Hand hielt, erinnerte ich mich der pessimistischen Weltanschauung, über die ich nachgedacht hatte, nachdem ich eine bestimmte Passage gelesen hatte - daß die einzige Zukunft, die uns erwartet, Staub und Verfall ist. Da war ich inzwischen ganz anderer Meinung. Ich wußte, daß in diesem Moment Victor und Jennifer irgendwo weiterlebten, und daß meine Großmutter in der Tat nach einer gewissen Zeit wieder mit meinem Großvater vereint werden würde. Ich wußte, daß wir alle am Ende unsere eigene Ewigkeit finden würden.
Und ich wußte jetzt auch, was mir bestimmt war. Geradeso, wie mir gestattet worden war, die Vergangenheit zu ändern, wurde mir jetzt die Möglichkeit gewährt, meine Zukunft zu ändern. Auf keinen Fall wollte ich die Chance vertun, das zu bekommen, was Jennifer und Victor sich ersehnt hatten, aber niemals hatten haben können. Diese Chance wurde mir geboten; ich wollte sie ergreifen, ehe es zu spät war. Ich konnte nur hoffen, daß Doug noch da sein würde, wenn ich zurückkehrte, denn ich hatte ihm soviel zu sagen. Ich hatte gelernt, »ich liebe dich« zu sagen. Erklärungen habe ich keine. Wie das alles geschehen ist, darüber kann man nur Mutmaßungen anstellen. Und warum es geschah ... Nun, auch darüber läßt sich mit Gewißheit nichts sagen, wenn ich auch sicher bin, daß alles lange vorbestimmt war. Mein Großvater lag im Sterben, er mußte die Wahrheit erfahren. Und Victor existierte an einem Ort, der »grau und häßlich« war, wußte nichts 'darüber,
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