Haus der Erinnerungen
Bruder, der damals sieben Jahre alt war, und mir, die ich gerade zwei war, in die USA ausgewandert, um sich dort ein besseres Leben aufzubauen. Als meine Eltern die amerikanische Staatsbürgerschaft angenommen hatten, waren auch wir Kinder automatisch Amerikaner geworden. Unser Zuhause war Los Angeles, unsere Sprache war die der Amerikaner, unser Herz gehörte Kalifornien. Bis zur Ankunft der beiden Briefe hatte ich kaum über England nachgedacht oder darüber, daß meine Wurzeln in England waren. Keiner von uns hatte je zurückgeblickt. In den letzten Jahren hatten meine Eltern gelegentlich von einer Reise in die ›alte Heimat‹
gesprochen, einem Wiedersehen mit der Familie, aber es war bei Plänen geblieben, und nun, so schien es, war es zu spät.
Die Briefe kamen zu einem höchst ungünstigen Zeitpunkt. Meine Mutter war gerade erst aus dem Krankenhaus entlassen worden, wo sie am Fuß operiert worden war, und konnte sich nur mühsam mit Hilfe der beiden Krücken fortbewegen, ohne die sie in den nächsten sechs Wochen nicht würde auskommen können. So lange, fürchtete sie, würde ihr Vater nicht mehr leben. Zunächst war ich erstaunt, als sie mich bat, nach England zu reisen, um der Familie in dieser schweren Zeit beizustehen. Aber
dann erschien es mir beinahe wie eine Fügung des Schicksals, daß meine Mutter die Reise nicht machen konnte und mich an ihrer Stelle schicken wollte; gerade in diesen Tagen hatte ich den starken Wunsch und das Bedürfnis, meinem Alltagsleben eine Weile zu entfliehen.
»Einer von uns sollte rüber fliegen«, sagte sie immer wieder. »Dein Bruder kann nicht.
Er ist in Australien. Dein Vater kann seine Arbeit nicht im Stich lassen. Außerdem ist er ja kein Townsend. Ich weiß, es wäre an mir rüberzufahren, aber ich kann mich ja kaum bewegen. Für dich ist es vielleicht gut, deinen Großvater noch einmal zu sehen, Andrea. Du bist in England geboren. Deine ganze Verwandtschaft lebt dort.«
Danach ging alles so schnell, daß ich nur noch vage Erinnerungen habe: Ich sprach mit dem Börsenmakler, bei dem ich arbeitete, und ließ mir freigeben, kramte meinen Reisepaß aus einer Schachtel mit Souvenirs von einer Reise nach Mexiko, buchte einen Flug auf der Polarroute und war bei all diesen Vorbereitungen ständig getrieben von dem heftigen Wunsch, dem Schmerz und der Bitterkeit über das Ende einer Liebe zu entkommen. Während die Maschine den Nordpol überflog, dachte ich an alles, was ich hinter mir gelassen hatte, und fragte mich gespannt, was vor mir lag. Ich dachte an die quälenden Schuldgefühle meiner Mutter, die sich Vorwürfe machte, daß sie niemals nach England zurückgekehrt war und ihr Vater nun sterben würde, ohne sie noch einmal gesehen zu haben. Und ich dachte auch an Doug und die Schmerzen, die wir uns gegenseitig bei unserer Trennung zugefügt hatten.
Kein Wunder, daß ich das Gefühl hatte, neben mir zu stehen, während ich im Flughafengebäude von Manchester auf meine Verwandten wartete und mich fragte, ob ich das Richtige getan hatte.
Tante Elsie und ihr Mann sollten mich abholen, das wußte ich, und wir hatten auch keine Schwierigkeiten, einander zu finden. Tante Elsie hatte eine so ausgeprägte Ähnlichkeit mit meiner Mutter, daß ich sie sofort erkannte, und ich vermute, meine eigene Ähnlichkeit mit meiner Mutter machte es Tante Elsie leicht, mich unter den Wartenden gleich zu entdecken.
Alle Townsends unserer Linie haben ein besonderes körperliches Merkmal, das, wie mir erzählt wurde, schon unsere Vorfahren auszeichnete - eine steile kleine Falte zwischen den Augenbrauen direkt über dem Nasenrücken, die unseren Gesichtern einen trotzigen, beinahe zornigen Zug verleiht. Ich hatte sie seit meiner Kindheit, und ich sah sie jetzt im Gesicht der Frau, die durch das Gewühl auf mich zukam.
»Andrea!« rief sie, schloß mich impulsiv in die Arme und trat dann mit Tränen in den Augen zurück. »Mein Gott, hast du eine Ähnlichkeit mit Ruth! Wie deine Mutter. Schau doch, Ed, könnte sie nicht Ruth sein?«
Ed, nicht besonders groß, zurückhaltend und etwas unsicher, stand abseits. Er lächelte, machte eine undeutliche Bemerkung und gab mir dann die Hand. »Willkommen zu Hause«, sagte er. Als wir aus dem Flughafengebäude gingen, traf mich die Kälte wie ein Schock. In Los Angeles hatten wir knapp 30 Grad warm gehabt, und in Manchester war es jetzt, im November, schon winterlich kalt.
Onkel Edouard, von Geburt Franzose, eilte zum Parkplatz, um den Wagen
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