Haus der Erinnerungen
Großmutter?« rief ich. »Mittwoch, Kind.«
Mittwoch! Ich war seit zwölf Tagen hier in diesem Haus. »Mann, hab ich einen Hunger«, sagte ich und sprang auf. Ich fühlte mich herrlich. Mein ganzer Körper war entspannt und frisch.
Großmutter streckte den grauen Kopf ins Wohnzimmer. »Ach, endlich siehst du wieder besser aus, Kind. Das schlechte Wetter ist vorbei. Heute kannst du ins Krankenhaus fahren. Und danach ab ins Reisebüro mit dir, damit du deinen Flug buchen kannst.«
»Tut mir leid, Großmutter«, entgegnete ich, während ich Decken und Kissen und meine Kleider aufsammelte. »So schnell wirst du mich nicht los. Geh doch selbst ins Reisebüro, wenn du willst, aber ich hab noch einige Besuche zu machen.«
Sie sagte noch etwas, aber ich hörte es nicht mehr. Ich rannte schon die Treppe hinauf und ins Bad. Dusche gab es keine in diesem Haus, aber die Wanne tat es auch. Ich ließ sie mit heißem Wasser vollaufen, schrubbte mich gründlich ab, hielt den Kopf unter den Wasserhahn und wusch alle Überreste der vergangenen achtzig Jahre von mir ab.
Ich fühlte mich wie neugeboren.
Nachdem ich mich in der schneidenden Kälte des Vorderzimmers, die ich jetzt unangenehm deutlich spürte, angekleidet hatte, blieb ich noch einen Moment vor dem alten Kleiderschrank stehen. Ich sah hinunter auf seinen staubigen Boden und erinnerte mich, was Jennifer und ich dort in der Düsternis gefunden hatten. Dann schüttelte ich mir die Nässe aus dem Haar, sah zum Bett hinüber und lächelte.
Beim Frühstück aß ich für drei. »Na, dein Appetit ist wieder da, wie ich sehe.«
»Ich fühle mich prächtig, Großmutter.«
»Und Farbe hast du auch wieder. Aha, jetzt hast du dir doch eine von meinen Strickjacken übergezogen, das beruhigt mich.«
»Blieb mir ja nichts anderes übrig. Es ist ganz schön kalt hier drinnen. « Ich lachte sie an und spülte meinen Tee hinunter. Draußen war ein wunderschöner Tag, sonnig, ein leuchtend blauer Himmel, an dem kleine weiße Wölkchen dahintrieben, und sogar Vogelgezwitscher hörte ich. Ich hätte am liebsten gejauchzt vor Wonne.
Wir waren alle neu geboren worden.
»Du hast eben doch eine richtige Grippe gehabt«, sagte Großmutter. »Und jetzt ist sie vorbei. Siehst du, Ärzte sind ganz überflüssig. Der Körper weiß schon, was gut für ihn ist.«
»O ja, Großmutter.« Ich lächelte und dachte an Dr. Victor Townsend und seine wunderbar heilenden Hände. »Deine Arthritis ist auch weg, wie ich sehe.«
»Weg nicht, Kind, nur eingeschlafen bis zum nächsten Regenguß.«
Wir lachten ein wenig und schwatzten viel und waren uns einig, daß die britische Wirtschaft zum Teufel ging. Als kurz nach Mittag Elsie und William an die Tür klopften, ließ ich sie herein und begrüßte beide mit Umarmungen. Sie waren Victors Enkel, und wenn ich mir William genau ansah, konnte ich sogar eine gewisse Ähnlichkeit entdecken.
Nachdem ich mich warm eingepackt hatte, gingen wir in den beißend kalten Tag hinaus. Es mochte hell und sonnig sein, es war dennoch Winter in Warrington, und ich genoß es, zur Abwechslung einmal wieder ein wenig zu frösteln.
Der Zustand meines Großvaters war unverändert. Er lag fast bewegungslos auf dem Rücken und starrte mit leerem Blick zur Zimmerdecke hinauf. Elsie ging sogleich zum gewohnten Ritual über, öffnete Kekspackungen und Saftflaschen, die sie ihm mitgebracht hatte, und erzählte dabei die ganze Zeit von dem fürchterlichen Wetter, dem Regen und dem Sturm, der uns daran gehindert hatte, ins Krankenhaus zu kommen.
Ich saß derweilen stumm auf meinem Stuhl und sah ihn nur an. Er war Victors Sohn.
Er war in jener einen Nacht im Vorderzimmer gezeugt worden, in einer Nacht, in dem nicht nur ihm das Leben geschenkt worden war, sondern auch mir. Ich wußte, mein Leben lang würde ich zurückblicken und wissen, daß ich, ganz gleich, was in den kommenden Jahren geschehen sollte, erfahren hatte, wie es ist, von einem Mann wahrhaft geliebt zu werden. Wir blieben eine Stunde bei meinem Großvater. Ich sprach kaum, dafür schwatzten Elsie und William nach gewohnter Art und taten so, als könnte er sie verstehen.
Und während ich auf meinen Großvater hinuntersah, dachte ich, ich bin froh, daß es vorbei ist. Es hatte eine Zeit gegeben, da hatte ich gewünscht, es würde ewig weitergehen, da hatte ich gefürchtet, Victor zu verlieren und mich wieder der Gegenwart stellen zu müssen.
Aber das alles hat sich jetzt geändert. Ich bin ein Kind der Gegenwart und
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