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Haus der Jugend (German Edition)

Haus der Jugend (German Edition)

Titel: Haus der Jugend (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Florian Tietgen
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Schwule geäußert und das böse Wort nicht erwähnt, das seine Frau gerade noch, mit einer Kunstpause davor, um die Missbilligung zu unterstreichen, offen herausgestoßen hatte.
    Wir standen auf, er reichte mir die Hand. »Was machen Sie jetzt? Kommen Sie irgendwo unter?«
    »Ich hoffe.«
    »Machen Sie es gut.«
    Ich ging die Treppe hinunter. Drückte der Rucksack schwer auf die Schultern oder taten es die Fragen.
    Wohin?
    Warum?
    Wie sollte es weitergehen?
    Wer hatte mich verraten?
    Es konnte nur Fritz dahinterstecken. Selbst, wenn Frau Berghofer in einem ihrer Anfälle mütterlicher Fürsorge mein Zimmer aufgeräumt hätte, nichts darin hätte mich verraten können. Ich las die Zeitschriften nicht, die mutige Verleger herausgaben und in diskreten Umschlägen an Abonnenten verschickten. Weder ›Freond‹ noch ›Die Freunde‹, ›Ich und Du‹ oder ›Humanitas‹. Ich kannte die Namen, manchmal lagen die Hefte in den Räumen des Vereins für humanitäre Lebensgestaltung. Natürlich hatte ich sie mir angeschaut, aber es war mir immer zu umständlich gewesen, sie zu bestellen. Zu schnell mussten dank der Verbote, dank der ständigen Bedrohung die Verlage wechseln, die Adressen und Namen der Herausgeber und der Hefte selbst. Und zu gering war mir in den meisten Fällen der Informationsgehalt. Wenig Text, viele Bilder. Annoncen für Bars und Kneipen in Hamburg, in denen man sich treffen konnte, obwohl es doch jenseits der Legalität war. In Hamburg. Das war weit fort.
    Ich besaß kein eindeutiges Foto, keine entsprechende Zeichnung. Die männlichen Akte in meiner Zeichenmappe hätten genauso gut Übungen für die Akademie sein können.
    Gegenstandslose Überlegungen, die alle nichts änderten. Ich saß auf der Straße, obdachlos, ohne Ausbildung, ohne Arbeit, ohne Praktikumsplatz und ohne Studienplatz. Es war kalt, ich hatte Hunger, zum Glück noch Geld. Aber zunächst musste ich mich um eine Unterkunft bemühen.
    Ich spürte nichts außer der Kälte. Nicht das Entsetzen über meine Situation, keine Unruhe, keine Angst, keine Verzweiflung – nichts. Ziellos lief ich durch die Straßen, taub, blind. An den Häusern vorbei, den Geschäften, den Menschen, von denen ich nicht wusste, ob sie lächelten oder hämisch grinsten. Die Notwendigkeit, etwas zu tun, war irgendwo in den Nervenzellen hängen geblieben, nutzloses Wissen, das ich nicht in Taten umsetzte, nicht einmal in ein schlechtes Gewissen. Vielleicht hatte mich das Aloisiushaus zu gut versorgt, um mir Sorgen zu machen, doch die Erinnerung war weit entfernt, blass wie die Erinnerungen auf vergilbten Fotos, wie von der Sonne ausgebleichte Tagebucheinträge.
    Keine Heuschrecke, die mich einen verdorbenen Lügner schimpfte, nur dumpfe Ahnung davon, irreal wie ein böser Traum, den ich so schnell wie möglich vergessen musste.
    Die eigenen Schritte nicht spüren, den Weg nicht steuern, sich gläubig einem Schicksal ergeben, an der Hauswand hinaufschauen, ob Licht hinter den Gardinen war.
    Ja.
    Klingeln, Treppenhausbeleuchtung, Schatten, das Geräusch eines Schlüssels, die Stimme einer Frau. »Sie wünschen?«
    Aufschauen, ein Silberkreuz an einer Kette, ein kleiner dunkelhaariger Junge, der auf dem Arm gehalten wurde, das Gesicht einer jungen Mutter, toupierte Dauerwelle, blasse Lippen, helle Haut, Schatten unter den Augen.
    »Ich suche Herrn Beckmann.«
    »Den kenne ich nicht.«
    »Danke. Entschuldigen Sie die Störung.«
    Abwenden, schlucken, gehen, noch einmal umdrehen.
    »Seit wann wohnen Sie hier?
    »Seit gestern. Wir haben noch gar nichts ausgepackt.«
    Ich nickte. »Leben Sie sich gut ein.«
    Die Tür fiel zu, die Treppenhausbeleuchtung erlosch. Vier Tage. Vor vier Tagen hatte Darius sich nachts aus der Hütte gestohlen. Wie konnten jetzt schon neue Mieter in der Wohnung sein?
    Nur die Beine voreinander setzen. Gegen die Kälte angehen, Schritt für Schritt. Irgendwo hin, nur nicht stehen bleiben, aufwachen, Augen öffnen. Wie lange taumelte ich schon durch die Stadt?
    Ich stand vor dem Müllerschen. Als klapperte ich einfach die Stationen ab. Wenn Darius mich verlassen hatte, wenn er so dringend fort von mir gewollt hatte, dass er aus seiner Wohnung gezogen war, würde er auch seine Arbeit aufgegeben haben. Wie sehr musste ich ihn verschreckt und verjagt haben. Wie viel Angst musste er haben, ich könnte ihn finden.
    Ich betrat die Badeanstalt, trat ein in die hallende Atmosphäre von Chlorgeruch und gefliesten Wänden. Auch wenn Darius nicht hier war, ich

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