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Haus der Jugend (German Edition)

Haus der Jugend (German Edition)

Titel: Haus der Jugend (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Florian Tietgen
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Ihnen auch.«
    Trockene Kälte kroch durch den Dufflecoat, selten hatte ich während meiner Wanderung so unangenehm gefroren.
    Immer noch verzog der Pfarrer keine Miene.
    »Die Heuschrecken werden auch nicht jubilieren, nehme ich an.«
    »Nein.«
    Der Pfarrer ließ meine Hand los, steckte seine in die Manteltasche und sah mir ein letztes Mal ins Gesicht. »Vielleicht entscheidest du dich ja noch.« Ein kurzes Nicken, dann drehte er sich um und verschwand im Pfarrhaus. Ich brauchte etwas Zeit, bis ich mich auch umdrehte und den Weg nach München antrat. Es war nicht mehr weit. Die Türme der Frauenkirche waren schon sichtbar und boten mir Orientierung.
    Keine Schlange.
    Keine Heuschrecke.
    Kein gewisperter oder gezirpter Ton drang an mein Ohr. Ich hatte mich so sehr an die beschimpfenden Geräusche gewöhnt, dass mir die Stille zunächst gar nicht auffiel. Ähnlich dem Schmerz, der einem auf die Nerven geht, der sich ins Mark frisst und schier den Verstand kostet, an dem man aber doch immer wieder spielt, den man testet, ob er noch da ist. Ähnlich dem Schmerz, von dem man glaubt, er würde einen nie wieder verlassen, ging es mir mit meinen Begleitern. Erst nach einigen Kilometern meines Weges spürte ich die Erleichterung, die in der ungewohnten Stille lag. Der kalte Wind zwickte zwar im Gesicht, biss aber nicht in die Verfassung. Die Beine, gestern schwer und müde, gehorchten leicht. Ich kam gut voran, schnell voran, zuversichtlich voran. Ich hatte meine Kraft wieder, meine eigene, nicht die der zwei Kontrahenten, die einen Kampf um mich führten. Der Himmel war grau, doch ich fühlte Sonnenschein. Autofahrer überholte mich oder kamen mir entgegen, es gab Häuser, an denen ich vorbeiging, Dörfer, in denen ich Menschen traf, wenn ich sie durchquerte. Menschen, die ich freudig grüßte, die mich grüßten und weiter ihres Weges zogen, wie ich meines. Je näher ich der Stadt kam, um so mehr Autos ich sah und um so mehr Menschen mir begegneten, desto mehr Leben kehrte in mich zurück. Ich wurde wieder zu mir.
    Von Starnberg kommend traf ich im Südwesten in der Stadt ein, durch Neuried, in Solln an den beiden alten Dorfweihern und der Kirche von 1315 vorbei. An Darius dachte ich nicht, auch an Traum der letzten Nacht nicht. Ich fühlte mich wie ein Heimkommender. Noch empfing mich die Stadt wohlwollend. Ich freute mich auf das Bett in meinem Zimmer bei den Bergmosers, auf das gute Essen meiner Vermieterin, auf heißen Tee und auf die altmodische Gemütlichkeit eines Lebens, das nie meines werden würde, das ich aber doch ab und zu genießen konnte. An Darius dachte ich nicht. Meine Schritte wurden nur schneller, als ich den Umweg durch die Humboldtstraße einschlug, langsamer, als ich mich vor seinem Haus befand und nach oben sah, um hinter den geschlossenen Fenstern Leben zu entdecken.
    Einmal.
    Zweimal.
    Dreimal.
    Mit jedem Blick verkrampfte ich. Was hatte ich erwartet? Licht? Eine geöffnete Gardine? Darius, der mir zuwinkt dahinter?
›Bestimmt ist er im Müllerschen und arbeitet.‹
Rationale Beschwichtigungsformeln an ein heißes Gemüt. Zwecklos.
›Es ist mitten am Tag, wie willst du Leben sehen?‹
Rationale Fragen, um die Sehnsucht zur Vernunft zu bringen. Ergebnislos.
    Fort. Es war mir doch gut gegangen, den ganzen Tag. Ich ging langsam weiter, den vertrauten Weg bis zur Ohlmüllerstraße.
    Auch hier schaute ich nach oben. Kein Leben hinter den Fenstern, aber die angenehme Ahnung von Wärme. Ich trat ein, ging die Treppen hinauf, setze meinen Rucksack ab, um den Schlüssel aus einer Seitentasche zu holen, glaubte, den Tee schon riechen, Kartoffeln, Hackbraten …
    Die Tür ging auf, bevor ich mich wieder aufgerichtet hatte. Frau Bergmoser kam heraus, dahinter ihr Mann, eine Tasche in der Hand.
    »Guten Tag«, wünschte ich beiden, lächelte, freute mich, dass sie mich gehört hatten, reichte ihnen die Hand.
    Beide blieben stumm, Frau Bergmoser versperrte den Weg in die Wohnung, hielt die Hand in meine Richtung, nicht zur Begrüßung, sondern geöffnet, als wartete sie darauf, Geld zu bekommen. Herr Bergmoser versteckte sich hinter ihr, reichte mir die Tasche, zog die Stirn in Falten, als bedauerte er etwas, zuckte mit den Schultern, als fühlte er sich machtlos.
    »Sie können hier nicht mehr wohnen«, stammelte er.
    Seine Frau zückte einen Briefumschlag aus der Schürzentasche. Die karierte Schürze, die immer so aussah, als wäre sie aus alten Geschirrtüchern genäht worden. »Die Miete für Februar,

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